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Günther Oettinger (65) ist seit 2010 bei der EU Kommissar für verschiedene Ressorts.
© EPA/JULIEN WARNAND/picture alliance / dpa

Interview mit EU-Kommissar Oettinger: „Deutschland fehlen die Visionen für Europa“

EU-Kommissar Oettinger fordert mehr Impulse aus Berlin für die EU, sorgt sich um Polen sowie Italien – und blickt auf seine Karriere zurück. Ein Interview.

Herr Oettinger, rechnen Sie noch mit dem Ausstieg der Briten aus der EU – oder wird der Brexit in Salamitaktik abgesagt?

Unser Ziel war und bleibt es, einen ungeregelten Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU zu vermeiden. Deswegen haben wir uns nun wiederholt bereit erklärt, das Austrittsdatum zu verschieben. Nun kann Theresa May das Abkommen noch ein weiteres Mal im Mai im Unterhaus zur Abstimmung stellen.

Wenn sie dabei eine Mehrheit bekäme, würden die Briten nicht mehr an der Europawahl teilnehmen. Und wir hätten einen geordneten Austritt. Wenn die Abstimmung nicht stattfindet oder wenn sie erneut negativ ausfiele, müssten die Briten an der Wahl teilnehmen. Die weitere Entwicklung kann dann bis Ende Oktober gehen. Ich schließe aber auch eine nochmalige Verlängerung nicht aus. Klar ist: Insgeheim hoffen viele Europäer, dass die Briten Mitglied der Europäischen Union bleiben.

Sie auch?

Ich auch. Als Mitglied ist Großbritannien zwar nicht immer ganz einfach. Das Land ist aber wirtschaftlich, politisch und ordnungspolitisch ein wichtiger Bestandteil unserer Staatengemeinschaft.

War es klug, den Briten noch einmal Aufschub zu gewähren? Die EU macht sich damit abhängig von London. Alles dreht sich um den Brexit, und die Hausaufgaben der EU bleiben liegen...

Die öffentliche Wahrnehmung ist so. Das stimmt. Tatsächlich aber beschäftigt der Brexit die Kommission etwa eine Stunde pro Woche. Ansonsten stehen andere Themen auf unserer Tagesordnung: Wie vermeiden wir einen Handelskrieg mit den USA? Welche Fortschritte gibt es bei den Verhandlungen mit etwa einem Dutzend großen Partnerländern über Handelsabkommen? Wir arbeiten am Haushaltsrahmen der EU für das nächste Jahrzehnt und beraten über die außenpolitische Lage. Möglich, dass der Brexit die Tagesordnung Europas überdeckt. Er ist aber nicht der einzige Punkt auf unserer Agenda.

Schon sehen wir aber, dass die Einigkeit unter den Staats- und Regierungschefs der EU der 27 bröckelt. Beim letzten Gipfel hat es ziemlich geknallt, etwa zwischen der Bundeskanzlerin und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Ein Vorbote weiterer Risse?

Da sollte man nicht zu viel hineininterpretieren. Dass unmittelbar vor einer Europawahl die Entscheidung, ob die Briten raus müssen oder etwa mitwählen, von einigen Politikern auch wahltaktisch gesehen wird, ist naheliegend. Wichtig ist, dass am Ende alle die Entscheidung mittragen. Ich bin sicher: Unabhängig davon, wie es im Brexit-Drehbuch auch weitergeht, am Ende werden die 27 einig sein. Das schließt nicht aus, dass es auch einmal harte Debatten gibt.

Dennoch empfinden es viele als Farce, dass ein Land, das raus will aus der EU, noch einmal mit wählt und womöglich danach wichtige Weichen für die Zukunft noch stellen kann...

Diese Tatsache beruht schlicht auf vertragsrechtlicher Notwendigkeit. Wenn ein Land Mitglied der EU ist, dann nimmt es an europäischen Wahlen teil. Egal, wie lange es noch Mitglied bleiben will, egal auch, welche Austrittspolitik seine Regierung verfolgt. Andernfalls würden wir die Gültigkeit der Europawahl gefährden.

Stellen wir uns nur kurz vor: Die Briten nähmen nicht teil. Im Augenblick wären vermutlich viele zufrieden. Und im Herbst käme dann ein Gericht zur Auffassung, das Parlament sei nicht rechtmäßig gewählt. Die Europawahl müsste wiederholt werden. Die Empörung, die dann losbräche, möchte ich mir lieber nicht vorstellen. Hinzu kommt: Niemand weiß, ob die Briten nicht vielleicht noch viel länger dabei sind. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat eine Verlängerung bis Ende 2020 ins Gespräch gebracht.

Was hielten Sie davon?

Ende 2020 wäre durchaus ein sinnvolles Austrittsdatum. Denn dann endet der jetzige mehrjährige Finanzrahmen der EU, der seinerzeit noch mit den Stimmen des britischen Premier David Cameron beschlossen wurde. Weil die Briten diesen mitbestimmt haben, müssen sie ohnehin ihre finanzielle Verpflichtungen erfüllen, wie auch die EU.

Ist die Europawahl eine Schicksalswahl für den Kontinent?

Sie ist gewiss eine sehr wichtige Wahl. Ich bin mir aber sicher: Wenn das neu gewählte Parlament in der ersten Sitzungswoche im Juli in Straßburg zusammenkommt, dann werden die pro-europäischen Abgeordneten klar in der Mehrheit sein. Daher halte ich das Wort Schicksalswahl für eine Übertreibung. Wichtig ist, dass wir eine hohe Wahlbeteiligung bekommen. Es muss uns gelingen, den Wählern deutlich zu machen: Die Europawahl ist genauso wichtig wie die Bundestagswahl. Vielleicht sogar wichtiger.

Ist das Verständnis für die Bedeutung Europas in Deutschland gewachsen?

Schwierige Entwicklungen tragen dazu bei, das Bewusstsein für das Wesentliche zu schärfen. Trump hilft, Erdogan hilft, Putin hilft, Brexit hilft. Die Menschen begreifen, dass Europa in einer zunehmend dynamischen und instabilen Welt – ich nenne beispielhaft die Digitalisierung und die Entwicklungen auf der Krim – für die Wahrung und Verwirklichung unserer Ziele immer wichtiger wird.

Zum Zustand der EU: Beim Thema Flüchtlinge ist der Kontinent gespalten zwischen West und Ost, Ungarn ignoriert EuGH-Urteile, Italiens Haushaltsrisiken können den Euro in die Knie zwingen. Muss man sich Sorgen machen um Europa?

Ich halte nichts davon, ein apokalyptisches Bild der EU zu zeichnen. Sie haben Dinge angesprochen, die auch mir große Sorgen machen. Es gibt aber auch sehr positive Entwicklungen. Vor allem im Bereich der Wirtschaft. Viele Länder haben nach der Staatsschuldenkrise den richtigen Reformweg eingeschlagen. Irland etwa war fast pleite und ist auch dank der Hilfe der Gemeinschaft wirtschaftlich wieder stark. Auch Portugal ist auf einem weit besseren Weg als ich es mir vorstellen konnte. Wir haben zwar mit der Rechtstaatlichkeit in Polen ein Problem, wirtschaftlich ist Polen aber eine Lokomotive. Man darf auch nicht vergessen: EU-weit haben wir deutlich weniger Arbeitslose als etwa vor fünf Jahren.

Was macht Ihnen besondere Sorgen?

Die Verstöße in einigen Mitgliedstaaten gegen die Rechtstaatlichkeit. Gerichte müssen nun einmal unabhängig sein. Richter müssen weisungsungebunden urteilen dürfen. Das ist ein zentraler Wert der EU. Jede Maßnahme, die dies infrage stellt, wie etwa in Rumänien, Polen und Ungarn geschehen, muss uns Sorgen machen. Zudem beunruhigt mich die wirtschaftliche Lage in Italien: Italien ist mitten in einer Rezession. Das hat Folgen für den Staatshaushalt sowie die Stabilität der Banken. Ich befürchte: In wenigen Wochen werden wir sehen, dass die Erwartungen der Regierung in Rom an das Wirtschaftswachstum sowie die Begrenzung der Neuverschuldung im laufenden Haushaltsjahr kaum zu erreichen sind.

Was kann Brüssel tun?

Die Kommission hat durch Verhandlungen eine gewisse Begrenzung des Defizits erreicht. Jetzt müssen wir sehen, ob der zugesagte Wert im Vollzug des Haushalts innerhalb der ersten Monaten auch eingehalten wird. Im Lichte der Zahlen muss die Kommission dann entscheiden, ob der Druck auf Italien zur Konsolidierung verstärkt wird.

Haben Sie Sorge, dass Italien die Stabilität in der Eurozone gefährden kann?

Italien ist wirtschaftlich ein ganz großes Land in der Euro-Zone. Und Italien ist bislang als Träger der Rettungsschirme ESM und EFSF ein Garant für jene Darlehen, die wir vergeben haben. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die Rettungsschirme in Zukunft noch einmal gebraucht werden. All das macht deutlich: Wir brauchen Italien auch in der Zukunft als Träger der Rettungsschirme und keinesfalls als ein Land, das womöglich selbst unter einen Rettungsschirm gehen muss.

In der EU geht es meist nur dann voran, wenn Paris und Berlin an einem Strang ziehen. Anfangs haben Angela Merkel und Emmanuel Macron gut harmoniert. Doch ist es ihnen bisher nicht gelungen, grundlegende Reformen in der EU anzustoßen. Es scheint immer mehr Konflikte zu geben...

Manche grundsätzlichen Überlegungen, die Macron zur Zukunft der EU angestellt hat, werden in Berlin nicht geteilt. Ich finde, dass die Bundesregierung auch zu lange mit ihrer konstruktiven Erwiderung auf die Rede Macrons an der Sorbonne gewartet hat, die kurz nach der Bundestagswahl gehalten wurde und die in Grundzügen auch mit Berlin abgestimmt war. Generell beobachte ich zudem mit großem Bedauern, wie wenig Impulse in der Europapolitik von der Bundesregierung kommen: Der Koalitionsvertrag von 2018 trägt immerhin den Titel „Ein neuer Aufbruch für Europa“. Davon habe ich bisher wenig oder gar nichts gespürt. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass der Pro-Europäer Martin Schulz auf SPD-Seite dann doch nicht dieser Regierung angehört.

Was vermissen Sie konkret aus Berlin?

Die deutsche Politik ist viel zu wenig mit europäischen Perspektiven beschäftigt. Sie führt eine primär nationale Debatte. Sowohl in der Regierung als auch im deutschen Bundestag. Es fehlen die größeren Überlegungen und Visionen. Es dominiert das kleine Karo. Ich nenne als Beispiel die Erklärung zum Urheberrecht. Man kann sich da nur wundern: Wenn die Koalition die Kreativwirtschaft stärken will, dann ist die Protokollerklärung der Bundesregierung zum Leistungsschutzrecht auf EU-Ebene allenfalls ein Beitrag zur Verwirrung. Im Übrigen, was da inhaltlich stand, dürfte in der Praxis kaum realisierbar sein.

Wo fehlen klare Ansagen der Bundesregierung?

Ich wundere mich zum Beispiel immer wieder, wenn ich an den entscheidenden Sitzungen auf EU-Ebene teilnehme, in denen es um den künftigen EU-Haushalt geht. Die Berliner Positionen zum Haushalt sind zwar nicht negativ oder ablehnend. Aber viele würden schon erwarten, dass Deutschland jetzt endlich Farbe bekennt. In der Koalitionsvereinbarung steht sinngemäß: Deutschland ist bereit, mehr in den Europäischen Haushalt einzuzahlen, um neue Aufgaben zu finanzieren und die Brexit-Lücke in Teilen zu schließen. Aber genau diese Aussage ist bisher nur auf dem Papier in Berlin zu finden, aber nicht auch nur in einem einzigen Protokoll einer EU-Ratssitzung.

Persönlich zu Ihnen: Eine lange politische Karriere nähert sich ihrem Ende. Wo waren Sie am glücklichsten, in Stuttgart oder in Brüssel und Straßburg?

Im Gemeinderat von Ditzingen hatte ich meine beste Zeit. Nein, Scherz beiseite. Vielleicht waren meine glücklichsten Jahre die Zeiten als Fraktionsvorsitzender der baden-württembergischen CDU. Damals hatten wir als klar größte Fraktion einen starken Regierungsauftrag. Zunächst in der Alleinregierung, dann in der großen Koalition mit der SPD, später mit den Liberalen. Mein Chef war Ministerpräsident Erwin Teufel. Wir sind völlig unterschiedliche Typen, von ihm habe ich aber ungeheuer viel lernen dürfen. Ich hatte viel Freiraum und doch nicht die volle Verantwortung, die man dann als Regierungschef am Hals hat. Vielleicht waren diese knapp 15 Jahre rückblickend meine schönste Zeit.

Von außen betrachtet hatte man zuweilen den Eindruck: Brüssel war eine Befreiung für Sie?

Europa hatte ich ja nie auf meinem Zettel. Ich habe in meiner beruflichen Laufbahn einiges geplant. Als ich Landtagsabgeordneter wurde, war mir klar: Ich wollte irgendwann eine führende Rolle in der Landespolitik einnehmen. Später wusste ich, dass ich eines Tages die Nachfolge von Erwin Teufel antreten wollte. Aber, das Angebot, nach Brüssel zu wechseln, das kam überraschend. Die Idee kam nicht von mir. Ich habe den Ausstieg aus der Landespolitik aber nie bereut. Bis heute genieße ich es, mich in der vielfältigen Kultur Europas zu bewegen. Früher hatte ich den Schwarzwälder, den Kurpfälzer und den Stuttgarter am Tisch. Heute habe ich in meinem Kabinett verschiedene Nationen und damit Lebensgeschichten, Kulturen und Religionen. Ich habe in diesen bald zehn Jahren in Europa Erfahrungen machen dürfen, die mich ungemein bereichert haben.

Ihre Zeit als Ministerpräsident, war das im Rückblick eine persönlich schwierige Zeit?

Ich behaupte: Jeder Chef einer Landesregierung kennt Zeiten, wo ihm die Arbeit leichter von der Hand geht, aber auch Zeiten, die mühsam und frustrierend sind. Ich habe aus meiner Zeit in der Villa Reitzenstein Freunde aus allen Fraktionen behalten. Natürlich habe ich auch Fehler gemacht. Es ist aber interessant: Wenn ich in Deutschland bin, werde ich immer noch eher als der frühere Regierungschef angesprochen, weniger als der Europäer. Mir trägt keiner im Rückblick irgendetwas nach. Ich fühle mich vielmehr als Teil der baden-württembergischen Zeitgeschichte akzeptiert. Damit kann ich sehr gut leben.

Haben Sie irgendwann einmal überlegt, alles hinzuschmeißen und die Politik zu verlassen?

Wenn ich es nicht geschafft hätte, Erwin Teufel als Regierungschef nachzufolgen, hätte ich gehen müssen. Wenn damals Annette Schavan gewählt worden wäre, dann hätte ich gehen müssen. Das war 2004, ich war 51. Hätte sich die Parteibasis damals anders entschieden, so hätte ich sofort die Rückkehr in die Privatwirtschaft vorgenommen. Heute sind Annette Schavan und ich übrigens uneingeschränkt Freunde.

Gibt es Freundschaften in der Politik?

Eindeutig. Mein längster Freund ist Rainer Wieland.  Ich war einen Tag in der Jungen Union in Ditzingen, die ich gegründet habe, da kam der Rainer aus Gerlingen zu mir. Wir sind Freunde geworden und geblieben. Bis heute. Jeden Sommer gehe ich mit einer Gruppe von rund 50 Menschen zum Bergwandern nach Österreich. Etliche Bundes-, Europa- und Landespolitiker sind darunter. Da sprechen wir abends aber nicht über den nächsten Karriereschritt. Da reden wir über einen guten Zweigelt, über den VfB oder über die Tour am nächsten Morgen. Da sind echte Freundschaften entstanden.

Schließen Sie ein Comeback in der nationalen Politik aus?

Absolut. Ich bin überzeugt davon, dass ein Politiker nach einer langen Karriere im Land und in Europa geordnet seinen Rückzug vornehmen muss. Zumal, wenn er in meinem Alter ist. Danach sollte man nicht mehr Schlange stehen für einen Posten auf Bundes- oder Landesebene. Jede weitere Verwendung wäre falsch. Zu meiner persönlichen Zukunft verrate ich so viel: Baden-Württemberg bleibt mein Heimatland, auch wenn ich da nicht mehr wohnen werde. Wo ich hinziehe ist noch nicht klar. Es hängt davon ab, wo der Schwerpunkt meiner weiteren beruflichen Tätigkeit liegen wird. Vermutlich wird es eher Frankfurt, Hamburg oder Berlin sein.

Günther Hermann Oettinger (65) ist seit Anfang 2017 EU-Kommissar für Haushalt und Personal. Zuvor war der CDU-Politiker er zwei Jahre Kommissar für die Digitale Gesellschaft und Wirtschaft, davor fünf Jahre lang Kommissar für Energie. Von 2005 bis 2010 war er Ministerpräsident in Baden-Württemberg.

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