Wahlbeteiligung: "Der Zusammenhang zwischen Nichtwählen und sozialer Lage ist eindeutig"
Die Politik ist alarmiert und will gegen die stetig sinkende Wahlbeteiligung vorgehen. Bringt nichts, meint der Elitensoziologe Michael Hartmann. Er hat Zahlen dazu.
Die Parteien haben die sinkende Wahlbeteiligung als Problem erkannt und wollen jetzt einmütig dagegen angehen. Sie halten aus soziologischer Sicht nichts davon. Warum?
Weil die Aktion am Problem vorbeigeht. Die Leute, die nicht wählen gehen, tun dies in erster Linie, weil sie meinen, dass sich für ihre Probleme niemand interessiert. Viele haben eine kontinuierliche Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen erlebt, ihre Einkommen sinken, sie arbeiten im Niedriglohnsektor oder sind Dauerkunden von Hartz IV – die Hälfte der Hartzer ist dies seit mehr als vier Jahren. Das führt zum Gefühl: Die da oben interessieren sich nicht für uns, also interessieren wir uns auch nicht für deren Demokratie.
Woher wissen Sie das so sicher?
Die Soziologie kennt die Gründe des Nichtwählens inzwischen aus sehr genauen Untersuchungen, international, aber auch national. Der Zusammenhang zwischen Nichtwahl und sozialer Lage ist eindeutig.
Es gab früher ab und an die Vermutung, die Leute gingen nicht wählen, wenn sie einfach zufrieden mit ihrer Regierung sind.
Das ist inzwischen widerlegt. Wenn also der CDU-Generalsekretär Tauber wie kürzlich geschehen mit dieser Aussage kokettiert, ist das reiner Zynismus.
Und was wissen wir inzwischen besser?
Wir haben Zahlen über die Landtagswahlen in Bremen und sehr detaillierte Studien zur letzten Bundestagswahl für verschiedene Städte, unter anderem für Hamburg und Köln. Für Berlin gibt es leider nur einen gröberen Überblick. Überall ist das Ergebnis dasselbe. In Köln hatte Chorweiler die geringste Wahlbeteiligung, 42,5 Prozent. Dort dreht RTL bevorzugt seine Reality-Soaps und Hartz-Reportagen. Die höchste hatte der Stadtteil Hahnwald mit 88,7 Prozent. Dort lebt zum Beispiel Stefan Raab und die Arbeitslosenquote ist mit nur einem Prozent Kölns niedrigste. In Chorweiler ist sie mit 19,3 Prozent am höchsten. Dasselbe in Hamburg: Im Stadtteil Billbrook wählten nur 43,2 Prozent der Wahlberechtigten, die niedrigste Beteiligung, in Nienstedten dagegen die höchste, 86,9 Prozent. Billbrook hat die höchste Arbeitslosenquote Hamburgs, Nienstedten die kleinste, 12,1 gegen 1,4 Prozent. Die Ergebnisse sind wie aus dem Lehrbuch, so könnte man das nicht erfinden. Hätte der CDU-Generalsekretär Recht, dann wären überall die Arbeitslosen am zufriedensten mit der Regierung.
Ist das ein deutsches Phänomen?
Überhaupt nicht. Auch in den USA steigt die Wahlbeteiligung mit der Einkommensklasse. Das oberste Zehntel hat 80 Prozent, das eine Prozent an der Spitze sogar eine fast hundertprozentige Wahlbeteiligung. Von den unteren 30 Prozent geht nicht einmal die Hälfte wählen.
In den USA gibt es aber auch andere Hürden, überhaupt ins Wahllokal zu kommen. Die Eintragung in die Wählerlisten lässt sich politisch beeinflussen.
Das stimmt, ändert aber nichts an der Tendenz.
Obama ist in seinem ersten Wahlkampf eine viel höhere Mobilisierung als üblich gelungen, die Beteiligung stieg.
Ein gutes Beispiel. Die Wahlbeteiligung ist in den USA traditionell viel niedriger als bei uns und liegt sei Kennedys Zeiten zwischen 50 und 60 Prozent, bei Midterm-Wahlen, wenn nicht gerade eine Präsidentenwahl zusätzlich zieht, um die 40 Prozent. Beim letzen Mal waren es sogar nur gut 36 Prozent, die wählen gingen. Wobei auch wieder nach Lage gewählt wurde: Von denen, die weniger als 10 000 Dollar pro Jahr zur Verfügung haben, wählte nur zirka ein Viertel, von denen mit mehr als 150 000 Dollar fast 60 Prozent. Obamas Kandidatur und Wahlkampf konnte 2008 die Beteiligung insgesamt erstmals wieder auf über 60 Prozent steigern, aber die Tendenz blieb dieselbe. In jedem Zehntel der Bevölkerung stieg seinerzeit die Wahlbeteiligung, nur war der Abstand zwischen den Bessergestellten und den Armen geringer, was Obamas Vorsprung erklärt.
Welches Interesse hat die Politik dann überhaupt, die Wahlbeteiligung zu steigern? Ist es nicht viel leichter, sich auf die schrumpfende, überschaubare, leidlich bis sehr gutgestellte Wählerschaft zu konzentrieren, die man kennt und der man womöglich auch sozial näher steht?
In der Tat: Wenn den Gewerkschaften oder der Kirche die Mitglieder weglaufen, ist das realer Machtverlust. Die Parteien dagegen müssen sich keine ernsthaften Sorgen machen, an der Zahl der Sitze im Parlament, an den Diäten und an der Macht, an die man per Wahl kommt, ändert sich schließlich nichts. Ich bin mir daher auch nicht sicher, ob die Diskussion darüber, die Wahlbeteiligung zu steigern, wirklich ernst gemeint ist. Wenn es so wäre, ginge man an die Ursachen und beschränkte sich nicht wie SPD-Generalsekretärin Fahimi auf technische Lösungen wie die Einführung einer ganzen Wahlwoche. Auf die wirklichen Ursachen ist in der jüngsten Debatte um sinkende Beteiligung nicht eingegangen worden, auch von Journalisten nicht. Wenn es aber nicht einmal eine ernsthafte Analyse des Problems gibt, fällt es schwer zu glauben, dass man wirklich durchgreifende Lösungen will.
Sie haben sich in jüngeren Untersuchungen auch mit der Sozialstruktur der Eliten beschäftigt und dem, was daraus für ihre Politik folgt. Wie repräsentativ sind die Politiker fürs Volk?
In meinen Elitenbefragungen haben mich die Spitzenpolitiker besonders frappiert. Sie sind zwar nicht so exklusiv wie die Wirtschaftselite, stammen auf Bundesebene aber mehrheitlich aus den oberen drei bis vier Prozent der Bevölkerung. Wenn sie nach Steuererhöhungen für hohe Einkommen und Vermögen gefragt werden, schlägt ihre Herkunft sogar die Parteizugehörigkeit. Die Nachkommen aus Arbeiterhaushalten sind zu 90 Prozent dafür und 10 Prozent sind unentschieden. Kein einziger ist dagegen. Bei den Bürgerkindern ist es genau umgekehrt, beide Male unabhängig von der Parteimitgliedschaft. Sie entscheiden entlang ihrer sozialen Herkunft.
Ist das in den USA ähnlich?
Für die USA gibt es in den letzten Jahren mehrere wissenschaftliche Untersuchungen über das Abstimmungsverhalten der Kongressabgeordneten. Dort sitzen mittlerweile mehrheitlich Millionäre. Das Ergebnis ist ganz eindeutig. Jene Abgeordneten, die zuvor hoch bezahlte Jobs in der Privatwirtschaft hatten, stimmen wesentlich häufiger für Kürzungen bei Sozialleistungen und gegen Steuererhöhungen für hohe Einkommen und Vermögen als jene, die vorher einfachen Arbeiter- oder Angestelltentätigkeiten nachgegangen waren. Die große soziale Kluft zwischen den Eliten und der Bevölkerung, besonders dem unteren Drittel, und die daraus resultierende Politik spielen meines Erachtens für die Wahlmüdigkeit eine zentrale Rolle. Wer ernsthaft etwas gegen sie tun will, müsste sich daher mit den Entscheidungen auseinandersetzen, die wie Hartz IV oder die Schaffung des Niedriglohnsektors das Leben vieler Menschen zum Schlechten verändert haben.
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