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Wohin der Blick sich richtet.
© Illustration: Martha von Maydell, mvmpapercuts.com

Wir sind alle Osteuropa!: Der Westen schadet sich selbst, wenn er auf Polen & Co. herabblickt

Nationalismus, Korruption, Krieg, Bedeutungslosigkeit: Der Blick nach Osten sieht vor allem Probleme. Dabei sollte der Westen von ihm lernen. Ein Gastbeitrag.

- Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule der Künste in Zürich, außerdem Publizist, Musiker und Kraftsportler. Zuletzt erschien von ihm „Identität im Zwielicht“ (Claudius Verlag, 2021). Der Text ist in einer längeren Version erschienen im Philosophie Magazin (04/21)

Wenn in deutschen Massenmedien von Osteuropa oder Ostmitteleuropa – im Folgenden der Einfachheit halber „Osteuropa“ – die Rede ist, liegt dieser selten ein erfreulicher Anlass zugrunde. Die Schleifung des Rechtsstaats in Polen, der klientelistische Nationalismus in Ungarn, die Korruption in Bulgarien, der Krieg in der Ukraine – diesen Themen werden Artikel und Sendungen gewidmet.

Zudem gebricht es Osteuropa auch noch an touristisch-kulturgeografischer Mythologisierung. Ägypten, die Pyramiden. Japan, die Tempel. Neuseeland, Hobbits. Marokko, Kasbahs. Die Republik Moldau? Die Slowakei? Sogar der unmittelbare Nachbar Polen?

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Schaut man mit Furcht und Bewunderung auf China und die USA, verbindet man mit Tibet edles Mönchtum, glänzen bei der Nennung Tansanias die Augen der Safarisehnsüchtigen, so bleibt Osteuropa in der populären Imagination seltsam diffus. Das hat Tradition. Eine Tradition, die in Zeiten der Hybridisierung und der Auflösung Halt gebender Grenzen aktueller nicht sein könnte.

Die grob gesagt zwischen Deutschland und Österreich auf der einen, Russland auf der anderen Seite liegenden Länder, deren Grenzen und Herrschaftsverhältnisse sich im Laufe der Geschichte ständig verändert haben, markieren ein hybrides Dazwischen, das sich vom Westen weder als Eigenes vereinnahmen noch als Fremdes exotisieren lässt. So argumentierte der 2015 verstorbene polnische Kunsthistoriker Piotr Piotrowski, Osteuropa sei nicht das „ganz Andere“ (real other), sondern das „nahe Andere“ (close other).

„Provincializing the West“ lautete sein Motto

Vielleicht speist sich die Unruhe der heutigen mulitpolaren Umbruchszeit aus dem dumpfen Wissen, dass wir nun alle Osteuropäer sind, auch in Westeuropa – Zuschauer wie auch Schauspieler in einem globalen Theaterstück mit ständig wechselnden Rollen, diversen Sprachen und widersprüchlichen Regieanweisungen. „Provincializing the West“ lautete das Motto von Piotrowski.

Und tatsächlich scheint im Westen nun so langsam in der Breite durchzusickern, dass man nicht mehr alleine den Ton angibt wie in den Jahrhunderten des europäischen Triumphalismus, Kolonialismus, Exzeptionalismus. Eine Erfahrung, die viele Osteuropäer in den Randzonen der Macht nur zu gut kennen.

Es hat sich ein Exotismus breitgemacht

Sollen die Indifferenz oder die latente Überheblichkeit gegenüber der osteuropäischen „Peripherie“ vielleicht darüber hinwegtäuschen, dass vieles in Westeuropa selbst im Begriff ist, an die geopolitische Peripherie zu rutschen? Ohne in Kulturrelativismus oder Nationalismus-Verharmlosung zu verfallen, täte man in unseren Breitengraden auf alle Fälle gut daran, mit Blick auf Osteuropa von der Negativfixierung abzusehen und sich stattdessen zu fragen: Was ist es, das wir von Osteuropa lernen können, aus der Gegenwart wie auch der Vergangenheit?

Leider geschieht das Gegenteil. Nicht nur im deutschsprachigen Raum hat sich ein heimlicher Exotismus breitgemacht; ein Exotismus, in dem Piotrowskis „ganz Anderes“ als „unser ganz Anderes“ wiederkehrt: Je ferner die Probleme, je markanter die Identitätsunterschiede, desto größer das mediale Interesse und die Solidaritätsgesten. So ist es frappant, wie dominant US-amerikanische Diskurse und soziale Kämpfe in Europa sind.

[Lesen Sie hier: Aminata Touré und Karamba Diaby im Interview: „Deutschland ist kein rassismusfreies Land“]

Man erinnere sich nur daran, dass die SPD in den 1980er-Jahren dem Freiheitskampf der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc ablehnend begegnete, während sich die Partei heute mit Black Lives Matter solidarisiert.

Black Lives Matter! Da haben viele mitgemacht - auch aus der SPD (Archivfoto vom Juli 2020)
Black Lives Matter! Da haben viele mitgemacht - auch aus der SPD (Archivfoto vom Juli 2020)
© Hannibal Hanschke, REUTERS

Die polnischen Todesopfer durch rechtsextreme Gewalt während der „Baseballschlägerjahre“ (Christian Bangel), wer kennt sie noch? Wie fühlen sich Polen, deren Vorfahren zwei Jahrhunderte lang kolonialisiert, ausgebeutet, bekriegt wurden, wenn Akademiker heute mit neoessenzialistischer Verve von „white privilege“ sprechen? Und hat man, als in Deutschland Tausende trotz Corona in Solidarität mit Black Lives Matter demonstrierten, ähnlich große Veranstaltungen in Solidarität mit Weißrussinnen oder der polnischen Opposition gesehen?

Wer das eine gegen das andere ausspielt, ist ein Demagoge. Wer das eine nicht in Relation zum anderen setzt, ein Ideologe.

Man muss die Denkschablonen neu justieren

Verlässt man die Schwarz-Weiß-Kategorien und widmet sich den hybriden Räumen und Geschichten Osteuropas, dann kommt Version:0.9 StartHTML:0000000136 EndHTML:0000000884 StartFragment:0000000172 EndFragment:0000000848 SourceURL:about:blank#blocked man nicht umhin, die eigenen Denkschablonen neu zu justieren. Wird beispielsweise Multikulturalität in Diversity-Fibeln bevorzugt mit Bildern von Weißen, die auf Schwarze treffen, oder von Anzugträgern, die sich mit Kopftuchträgerinnen unterhalten, illustriert, dann geraten die weniger eindeutige Binnenmultikulturalität und Binnendiversität Europas aus dem Blick. Wie repräsentiert man eigentlich „den Moldawier“? Oder „die Abchasin“?

Es sind genau die subtileren Formen von Diversity, die in Diskursen über Globalisierung, Migration, Transkulturalität einen festen Platz haben sollten. Die 1991 auf den Trümmern der Sowjetunion errichtete Republik Moldau etwa hat eine genuin hybride Vergangenheit: Mal war sie ungarisch, mal osmanisch, mal russisch, mal rumänisch, mal sowjetrussisch, oft vieles zugleich.

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Im 19. Jahrhundert lebten Deutsche, Russen, Armenier, Ukrainer, Bulgaren, Polen, Rumänen, Gagausen auf dem heutigen Staatsgebiet. Um 1900 war die Bevölkerung der Hauptstadt Chisinau fast zur Hälfte jüdisch. 1903 schürten Rechtsextreme ein Pogrom – nicht das erste, nicht das letzte. Die Geschichte Chisinaus zeigt, dass Multikulti gelingen kann, aber stets die Gefahr besteht, dass ethnische Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.

Wer sich heute Gedanken über die Europäische Union, über Potenziale und Grenzen des Zusammenwachsens oder über Diversity macht, sollte auf die Moldau schauen und von den dortigen Erfahrungen mit kultureller Diversität und politischer Fragilität lernen. Einen guten Einstieg bietet Chisinaus kleine, aber engagierte Kunst- und Theorieszene.

Natürlich kann man sich auch mit Kultur in Afrika beschäftigen!

Die junge moldawische Künstlerin Catalina Bucos, die heute in Köln Medienkunst studiert, etwa schrieb mir unlängst: „Es ist sehr wichtig, von der Peripherie zu lernen. Osteuropäische Künstler sind von Beginn an auf Prekarität eingestellt und deshalb sehr reflektiert in dem, was sie zum Ausdruck bringen, wie auch in der Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur.“

Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, als Angehörige einer alteingesessenen Familie im nordrhein-westfälischen Niederdielfen philosophische Schriften von Kwame Anthony Appiah zu lesen und sich mit dem afrikanischen Volk der Ewe vertraut zu machen – im Gegenteil! Aber was, wenn man noch nicht einmal weiß, wo die Republik Moldau liegt, oder noch nicht einmal verstanden hat, warum im Nachbarland Polen Kultur- und Nationalessenzialismus grassieren?

Erst die Nazis, dann die Sowjets

Es fällt leicht, die heutige rechtskonservative Regierung Polens zu kritisieren. Und es ist mehr als nur angebracht. Aber damit allein ist wenig gewonnen. Die Vorgänge in Polen versteht nur, wer die Geschichte Polens versteht. Seit dem späten 18. Jahrhundert und bis ins späte 20. Jahrhundert war Polen geopolitische Manövriermasse, wurde geteilt, ausgebeutet, erniedrigt. Erst die Nazis, dann die Sowjets zerstörten gezielt die Eliten des Landes.

Die Regierung von Ministerpräsident Morawiecki wird notorisch kritisiert, zu recht, aber wer versteht schon, wie polnische Politik tickt?
Die Regierung von Ministerpräsident Morawiecki wird notorisch kritisiert, zu recht, aber wer versteht schon, wie polnische Politik tickt?
© Pawel Supernak/PAP/dpa

Traumata werden über Generationen weitergegeben und konkretisieren sich politisch erst mit Verzögerung, siehe Ostdeutschland. Warum spielt Osteuropa in postkolonialen Studien kaum eine Rolle, wie Mithu Sanyal in ihrem Roman „Identitti“ (2021) zu Recht andeutet? Warum ist amerikanische Identitätspolitik in Westeuropa ein Diskursfetisch, während Bücher wie Peter Rodgers „Identity Politics in Ukraine, 1991– 2006“ Diskursraritäten bleiben? Und warum nicht auch das geistige Erbe Polens entdecken?

In Zeiten, da rechter Autoritarismus (etwa in Brasilien), linker Totalitarismus (etwa in China) und illiberale Identitätspolitik Konjunktur haben, empfiehlt es sich, beispielsweise Czeslaw Miloszs Totalitarismuskritik „Verführtes Denken“ (1953) oder Leszek Kolakowskis Satire auf den real existierenden Sozialismus „Was ist Sozialismus?“ (1956) zu lesen.

Intellektuelle, die sich für schlauer halten, und Macht wollen? Kennen sie gut

Milosz erläutert am Beispiel vom Kommunismus berauschter polnischer Intellektueller, warum gerade die – vermeintliche – Geisteselite empfänglich für die Versuchung der Macht ist: Sie will die kognitive Dissonanz zwischen gefühlter und realer Geltung überwinden. Einerseits wähnen sich viele Intellektuelle der breiten Masse überlegen. Sie verzweifeln geradezu daran, dass die einfältigen anderen nicht begreifen, was sie selbst längst begriffen haben. Andererseits wollen sie, geplagt vom Gefühl der Entfremdung, zu ebenjener Masse gehören. Kommt also eine politische Bewegung daher, die verspricht, hochstehende Theorie mit Macht und Masse zu verbinden, so sind sie für diese empfänglich.

Der einst überzeugte Kommunist Kolakowski wiederum zeigte, wie man in Zeiten von Zensur selbige mit Witz ad absurdum führt. Er schrieb einfach in einer langen Liste auf, was Sozialismus (offiziell) nicht sei: Ein Staat, in dem man ohne Gerichtsprozess verurteilt wird; ein Staat, der Menschen zum Lügen zwingt; ein Staat, in dem die Bürokratie schneller wächst als die Arbeiterschaft …

Seine Pointe: Liberalismus und freier Markt retten den Sozialismus

Aber eigentlich fand er den Sozialismus dann doch nicht so übel, wie er 1995 in „Was vom Sozialismus bleibt schrieb“: „schließlich haben sich sozialistische Werte mit liberalen verbunden und wurden im Rahmen demokratischer Marktwirtschaft verwirklicht.“ Liberalismus und freier Markt retten den Sozialismus – das ist die wahre Ironie real existierender Geschichte!

Aktuell knüpft der in Sydney lehrende polnische Rechtsphilosoph Wojciech Sadurski an das aufklärerische Erbe Polens an, wenn er in seinem Buch „Poland’s Constitutional Breakdown“ (2019) die nationalkonservative Regierung für die Schleifung der Verfassung kritisiert. Man sollte daran erinnern, dass Polen 1791 die dritte moderne Verfassung der Welt verabschiedete, inklusive Gewaltenteilung und Religionsfreiheit.

Das Rathaus von Posen etwa ist ein Fanal jenes Multireligiösen

Vorstufen jener offenen Modernität findet man schon in der Renaissance. Das Rathaus von Posen etwa ist ein Fanal jenes Multireligiösen, ja Multikulturellen, das Polen als europäische Großmacht in Realunion mit Litauen (1569–1795) kennzeichnete. Das Gebäude im Renaissancestil wurde vom Tessiner Architekten Giovanni Battista di Quadro Mitte des 16. Jahrhunderts erbaut. Im Bogengang beherbergen Zwickel mythologisch-historische Figuren von Lucretia bis Kleopatra.

Die Fassade zeigt Philosophen der griechisch-römischen Antike. Im Inneren befinden sich Wappen der Sforza und der Habsburger, ein venezianischer Globus aus dem Jahr 1688 zeugt ebenso von Internationalität wie Bilder exotischer Tiere in einer Kassettendecke. Die damalige Adelsdemokratie Polen war berühmt für religiöse Toleranz. An diese Tatsachen gilt es heute zu erinnern – nicht, um von Verfehlungen der Gegenwart abzulenken, sondern um aufzuzeigen, dass sich die Gegenwart mitunter aus einer Vergangenheit speist, die ihr voraus ist.

Jörg Scheller

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