Ist Boris Johnson amtsmüde?: „Der Premierminister ist immer zu spät dran“
Pandemie- und Brexit-Chaos: Boris Johnson wirkt müde und gereizt. Die Schwierigkeiten türmen sich. Und die Schotten trumpfen auf.
Neulich ging Boris Johnson radeln. Dass der britische Premierminister das Fahrrad für ein angenehmes Fortbewegungsmittel hält, zumal in einer weitgehend flachen Stadt wie London, weiß man spätestens seit seiner Zeit als Bürgermeister der Neun-Millionen-Metropole. Im Lockdown haben Zweiräder zusätzliche Bedeutung als Fitnessgeräte erhalten. Sein eigenes nutzte der übergewichtige 56-Jährige genau zu diesem Zweck, und zwar im Park rund um das Olympiastadion im Osten der Stadt.
Die grüne Oase liegt zwölf Kilometer von seinem Amtssitz in der Downing Street entfernt, weshalb die Lokalzeitung „Evening Standard“ empört fragte, ob sich Johnson eigentlich an die Corona-Beschränkungen gehalten habe. Die erlauben zwar täglichen Spaziergang oder Sport im Freien, setzen auch kein Zeitlimit, fordern aber zum Verbleib „im lokalen Bereich“ auf. Das sei typisch, schimpfte der Labour-Abgeordnete Andrew Slaughter: „Wieder mal predigt der Premierminister ein bestimmtes Verhalten, handelt aber nicht danach.“
Dass die Regierungspressestelle auf den kleinen Ausflug verdruckst reagierte, anstatt den Chef für seine Fitness zu loben, lässt nur einen Schluss zu: Auch in der Downing Street herrscht die düstere Stimmung, die sich über das Land gelegt hat. Täglich an die 50.000 Neuinfektionen mit Sars-CoV-2, Ambulanzstaus vor den Krankenhäusern, so viele Intensivpatienten mit Covid-19 wie nie zuvor, im Wochendurchschnitt täglich mehr als Tausend Tote – kein Wunder, dass Oppositionsführer Keir Starmer im Unterhaus reichlich Argumente vortragen konnte gegen den müde und gereizt wirkenden Premierminister.
„Der Premierminister ist immer zu spät dran“
Genüsslich zitierte der Labour-Chef sein Gegenüber aus der letzten Fragestunde vier Wochen zuvor. Da hatte Johnson von einem „erheblichen Rückgang“ des Virusgeschehens gesprochen, weitere Einschränkungen für unnötig erklärt, ja ausdrücklich an den geplanten Lockerungen über die Weihnachtstage festgehalten. Letztere immerhin wurden schließlich unter dem Eindruck der aggressiven Corona-Mutante B117 gestrichen, bis zum Lockdown dauerte es aber mehr als 14 Tage. „Wann immer eine schwierige Entscheidung getroffen werden muss, ist der Premierminister zu spät dran“, tadelte Starmer.
Die Kritik teilen hinter vorgehaltener Hand viele Konservative. Johnson sei notorisch unentschlossen und leide an der „krankhaften Sucht, gemocht zu werden“, urteilt ein erfahrener Hinterbänkler. Die ernsten Zeiten sind Gift für einen Politiker, der am liebsten Frohsinn und Optimismus verbreitet. Hartnäckig geistern Gerüchte durchs Regierungsviertel Whitehall, der erst seit anderthalb Jahren regierende Boss sei bereits amtsmüde.
Dazu fütterten Nahestehende die normalerweise gut informierte „Times“ mit der Klage, der Premier sei schlecht bezahlt. Zwar gesellen sich zum Gehalt von umgerechnet 179.000 Euro jährlich noch mehrere Zehntausend Pfund Tantiemen für alte Bestseller. Doch hat Johnson eine teure Scheidung hinter sich, der acht Monate alte Wilfred ist sein sechstes Kind, von denen drei noch auf Jahre hinaus finanziell von ihm abhängig bleiben.
Vorräte aufgebraucht
Johnsons Neujahrsansprache klang dagegen nicht nach baldigem Rücktritt: Da schwärmte der Premierminister von Großbritannien als „Wissenschafts-Supermacht“, verwies auf die diesjährige G7-Leitung seines Landes und die Ende 2021 anstehende Klimakonferenz in Glasgow. Auf der internationalen Bühne könne sein Land „Großes leisten“, beteuerte er.
Wenn nur die Mühen der Ebene nicht wären! Vierzehn Tage nach dem Ausscheiden des Landes aus dem größten Binnenmarkt der Welt treten allmählich die längst vorausgesagten Bremsspuren zu Tage. Weil Unternehmen gut vorgesorgt hatten und der Privatverkehr durch die Pandemie beinahe zum Erliegen gekommen ist, blieben nach Neujahr die chaotischen Zustände aus, die kurz vor Weihnachten in den Ärmelkanalhäfen zu beobachten waren. Mittlerweile aber sind die Vorräte aufgebraucht, zum Ende dieser Woche hin prophezeien Spediteure erstmals wieder normale Verhältnisse. Ob sich dann die vielfältige neue Bürokratie bemerkbar macht?
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Das sei schon längst der Fall, hielt der Fraktionschef der schottischen Nationalpartei SNP dem Premierminister im Unterhaus vor. Exporteuren von Fischprodukten in die EU gehe wegen neuer Zoll- und Einfuhrbestimmungen „täglich eine Million Pfund“ verloren, rechnete Ian Blackford vor. Jeffrey Donaldson von den nordirischen Unionisten, normalerweise treue Gefolgsleute der Torys, warf Johnson sichtbare Brexitfolgen für den britischen Teil der grünen Insel vor: Supermarktregale bleiben leer, weil frische Lebensmittel von der britischen Insel im Paragraphendickicht verrotten; Pakete werden wegen unklarer Zollbestimmungen nicht ausgeliefert; Handwerker warten auf Ersatzteile.
Schotten wollen raus aus der Union
Neben den kurz- und mittelfristigen Schwierigkeiten durch die Pandemie und den Brexit drängt ein strategisches Problem mit Macht auf die Tagesordnung. Denn Umfragen zufolge wollen mittlerweile, anders als 2014, bis zu 58 Prozent der Schotten ihrer Union mit England den Rücken kehren. Bei der Regionalwahl im Mai dürften sie der Edinburgher Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon das Mandat für ein zweites Referendum verleihen.
Schwierig wird auch die Annäherung an den neuen US-Präsidenten. Im Team des irischstämmigen Joe Biden herrscht großes Misstrauen gegenüber dem „britischen Trump“, wie der diskreditierte Amtsinhaber Donald Trump den Engländer genannt hat. Johnson wird viel transatlantisches Süßholz raspeln müssen, wenn er die viel beschworene „besondere Beziehung“ zu den Vereinigten Staaten wiederbeleben will.
Mag 2020 für Boris Johnson ein schwieriges Jahr gewesen sein – 2021 schickt sich an, den durchtrainierten Radfahrer in der Downing Street vor eine weitaus härtere Probe zu stellen.