Muslimische Einwanderung: Der Islam ist fast sieben Prozent von Deutschland
Das Bundesamt hat die aktuelle Zahl der Muslime in Deutschland errechnet. Sie ist stark gestiegen - doch anders als früher ist das kein Aufregerthema mehr.
In Deutschland leben zwischen 5,3 und 5,6 Millionen Musliminnen und Muslime, deren Familie aus einem muslimisch geprägten Land stammt. Das sind 6,4 bis 6,7 Prozent der gesamten deutschen Bevölkerung. Ihre Zahl stieg von 2015 und 2019 um etwa 900.000 Menschen an – vor allem durch Menschen aus Syrien und anderen Kriegsschauplätzen im Nahen Osten, die nach Deutschland flohen. Die Zahlen wurden in der neuen Auflage der Studie “Muslimisches Leben in Deutschland” erhoben, die Forscherinnen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) im Auftrag der Deutschen Islam-Konferenz erarbeitet haben. Für die repräsentative Studie wurden 5200 Interviews ausgewertet, die zwischen Juli 2019 und März 2020 geführt worden waren.
Menschen mit türkischem Familienhintergrund sind demnach nicht mehr die absolute Mehrheit. Ihre Zahl steigt zwar weiter, ihr Anteil an der nun deutlich größeren muslimischen Community ist aber im Vergleich zur letzten Erhebung aus dem Jahr 2015 gesunken.
Wobei von einer Gemeinschaft auszugehen, bereits in die Irre führt, glaubt man der Leiterin der Studie, Anja Stichs vom Forschungszentrum des Bamf. “Die muslimische Bevölkerungsgruppe ist eine sehr vielfältige.” Das gelte einmal für die Kulturen, aus denen die Menschen kommen, und die unterschiedlichen Sprachen, die sie sprechen. “Aber es betrifft auch die Art, wie Religion gelebt wird.” So hielten etwa 70 Prozent die Speisevorschriften des Islam ein, 39 Prozent beteten täglich, ein Viertel aber nie. Weniger als ein Drittel der Frauen trägt ein Kopftuch, die Mehrheit sind Frauen über 66. Von denen, die es nicht tragen, sagt ein Drittel, sie befürchteten andernfalls Nachteile.
Erneut stellt sich heraus: Eingewanderte sind Deutschland verbundener als Alteingesessene
Nicht alle, die aus muslimischen Ländern kommen, sind auch religiös: Immerhin zehn Prozent bezeichneten sich in der Befragung durch das Bamf als atheistisch oder agnostisch. Im Schnitt sind sie allerdings religiöser als der Durchschnitt der deutschen Aufnahmegesellschaft – und das gilt nicht nur für muslimische Gläubige, sondern auch für Christinnen und Christen aus dem Nahen Osten. 82 Prozent der Befragten sagten über sich, sie seien “sehr” oder “eher gläubig”.
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Die Bedeutung der Religion für das Leben muslimischer Gläubiger werde allerdings im öffentlichen Diskurs überschätzt, sagt Forscherin Stichs. Was ihre Teilhabechancen und ihre Einbindung im deutschen Leben angeht, “unterscheiden sie sich so gut wie gar nicht von Angehörigen anderer Religionen.” Für Unterschiede zur Aufnahmegesellschaft sei die Zeit viel entscheidender, die sie bereits dort verbracht hätten. Das zeige sich zum Beispiel an ihren Berufsabschlüssen: In der Generation der bereits hier Geborenen “unterscheidet sie sich kaum noch von Angehörigen der Aufnahmegesellschaft”.
Staatssekretär Markus Kerber aus dem Bundesinnenministerium verwies darauf, dass auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung 2015 selbst aus der Wissenschaft Bedenken kamen, für Menschen aus Gesellschaften mit einer schwachen säkularen Tradition könne es schwierig werden, sich in die deutsche Rechts- und Gesellschaftsordnung einzufinden, die zwar nicht laizistisch wie in Frankreich ist, aber säkular und zwischen Staat und Religion trennt.
Diese Befürchtung, so Kerber, “lässt sich durch die Studie noch einmal relativieren”. Sie bestätigt unter anderem einen früheren Befund: nämlich dass sich Eingewanderte öfter (39 Prozent) sehr stark mit Deutschland verbunden fühlen als Menschen ohne Migrationshintergrund (30). Nur eine verschwindende Minderheit, weniger als drei Prozent der Befragten, fühlt gar keine Verbundenheit. Die Mehrheit der Vereinsmitglieder engagiert sich in deutschen Vereinen, zwei Drittel derer, die wenig Kontakt zur einheimischen Bevölkerung haben, wünscht sich mehr davon.
Staatssekretär warnt Ankara
Kerber machte zugleich deutlich, dass die Bundesregierung auf der Unabhängigkeit muslimischer Strukturen von ausländischen Regierungen beharren werde. “Das werde ich vielleicht noch dieses Jahr mit einer Reise nach Ankara unterstreichen”, sagte Kerber, der 2007, unter dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble die Deutsche Islam-Konferenz konzipierte und seit 2018 als Verantwortlicher für gesellschaftlichen Zusammenhalt (“Heimat”) und Religionsangelegenheiten, zurück im Ministerium ist. Besonders die türkisch-islamische Ditib steht seit Jahren in der Kritik, weil ihre Imame von der türkischen Regierung bezahlt werden und der Verband Weisungen von türkischen Konsulaten und Botschaften bekommt. “Dies hält nach unserer Kenntnis auch viele Muslime in Deutschland davon ab, sich mit solchen Verbänden zu identifizieren.”
Die erste Studie “Muslimisches Leben in Deutschland”, ebenfalls im Auftrag der DIK, erschien 2009 und ging von 3,8 bis 4,3 Millionen Muslimen in Deutschland aus. Den Wunsch nach einer Zahl, erinnert sich die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus, gab es damals schon seit etlichen Jahren. Die Göttinger Professorin, die vor Jahren eine eigene Untersuchung über das Problematische solcher Zählungen vorlegte, erinnert sich: 1999 wurde in einer Großen Anfrage der Unionsfraktion im Bundestag erstmals nach der Zahl muslimischer Gläubiger in Deutschland gefragt, ein Jahr später gab es dann die erste Statistik. Sie beruhte – der Islam als fremd markierte Religion – noch ganz und gar auf dem Ausländerzentralregister, zu dessen Daten man die alteingesessenen Muslime aus der Volkszählung von 1987 addierte.
"Muslime womöglich wirklich Teil des Landes geworden"
Spielhaus findet es bemerkenswert, dass jetzt die Erregung fehlt – obwohl nun die Zahl tatsächlich erreicht ist, die der muslimfeindliche Bestseller von Thilo Sarrazin 2010 gegen die Fakten behauptete (“fünf bis sechs Millionen”). Die Nachricht von der Studie hat es diesmal in keinem großen Medium nach vorn geschafft. “Womöglich werden Muslim:innen nun doch als zugehörig betrachtet, und ihre große Zahl ist deswegen nicht mehr der ganz große Aufreger”, sagte sie dem Tagesspiegel.
Sie erinnert an den Essay “Fear of Small Numbers” des New Yorker Sozialwissenschaftlers Arjun Appadurai von 2006: “Zahlen sind immer dann aufregend oder skandalös, wenn sie das große Ganze irritieren. Da kann eine Minderheit noch so klein sein. Sie scheint doch das Nationale in Frage zu stellen”, sagt Spielhaus. “Wenn die neue Erhebung also kein Aufregerthema ist, hieße das womöglich, dass Muslime wirklich Teil Deutschlands geworden sind.”
Andrea Dernbach