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Grenzenlos empört. Wie vielerorts in den USA gehen auch in Berlin Menschen gegen die Abschottungspolitik des neuen US-Präsidenten auf die Straße. Im HU-Zentrum sollen etwa gesellschaftliche Veränderungen durch Grenzziehungen erforscht werden.
© imago/Christian Ditsch

Grenzforschung in Berlin: Mauern einreißen

Grenzen dichtmachen, hohe Mauern bauen? Das Thema ist so aktuell wie nie zuvor. Die Humboldt-Universität bündelt jetzt ihre Grenzforschung - und knüpft damit auch an die Geschichte Berlins an.

Wer die Gegenwart verstehen will, ist gut beraten, die Vergangenheit zu befragen. Die eigene Bevölkerung abschotten, Grenzen dichtmachen, hohe Mauern bauen? Hatten wir doch alles schon. Und nicht nur einmal in der Geschichte der Menschheit. Trotzdem scheint der Grundsatz im 21. Jahrhundert weiterhin gültig: Wer politische Härte zeigen will, kommt um symbolträchtige Grenzanlagen nicht herum. Oder wie es der Historiker Jürgen Osterhammel 2009 in „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“ formuliert hat: „Politische Grenzen sind (…) physische Vergegenständlichung und Orte der materiellen und symbolischen Verdichtung von Herrschaft.“

Was könnte angesichts der weltpolitischen Lage also aktueller sein als das Forschen über Grenzen? An der Humboldt-Universität (HU) gibt es seit Kurzem ein „Interdisziplinäres Zentrum für transnationale Grenzforschung“; „Crossing Borders“ lautet der vieldeutige Titel. Eine direkte Reaktion auf die Flüchtlingskrise in Europa und die Mauerbaupläne von US-Präsident Donald Trump ist der neue Forschungsverbund, der Ende Januar eröffnet wurde, jedoch nicht. „Es stecken sechs Jahre Vorarbeit in dem Zentrum“, erklärt Koordinator Nenad Stefanov. Seit 2011 forscht der Historiker mit Kollegen über Phantomgrenzen in Südosteuropa.

Dabei spüren die Wissenschaftler verschwundene geografische Grenzen auf, die Jahrzehnte später in anderen gesellschaftlichen Kontexten wieder auftauchten. In Polen etwa wurden bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 2010 auf der Wahlkarte plötzlich die preußischen Gebiete aus dem 19. Jahrhundert sichtbar: Dort gewann ein Kandidat der bürgerlich-liberalen Bürgerplattform. In den ehemaligen russischen und österreichischen Teilungsgebieten lag der Kandidat der konservativen Partei vorne.

Grenzen wirken nach, über Jahrzehnte

Grenzen wirken nach, über Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Nicht nur die Geschichtswissenschaft hat das Thema längst für sich entdeckt. Grenzforschung findet auch in der Geografie, in den Sprach- und Kulturwissenschaften, in der Anthropologie und der Rechtswissenschaft statt. Alles in allem ist das Forschungsfeld in Deutschland gut etabliert. Trotzdem gibt es wenig institutionelle Verankerung und kaum wissenschaftlichen Austausch über einzelne Fächer hinaus. Nur die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder verfügt bislang über ein interdisziplinäres Grenzforschungszentrum: Unter dem Dach von „B/Orders in Motion“ werden dort seit 2013 sozial-, kultur-, wirtschafts- und rechtswissenschaftliche Ansätze gebündelt.

Künftig will sich auch Berlin als Ort für innovative Grenzforschung profilieren. Anknüpfend an die Geschichte der Stadt, wie die Initiatoren betonen, aber keineswegs in Konkurrenz zu den Kollegen in Frankfurt/Oder. „Wir kooperieren schon seit einiger Zeit miteinander“, erklärt Stefanov. Auch sonst ist die produktive Vernetzung das wichtigste Leitmotiv des Zentrums. „Wir wollen dazu beitragen, dass die Wissenschaftler an der HU intensiver zusammenarbeiten.“ Veranstaltungsreihen, Kolloquien, interdisziplinäre Forschungsprojekte, all das hat sich das Crossing-Borders-Team für die kommenden Jahre vorgenommen. Der Blick soll sich dabei nicht nur auf Europa konzentrieren. Die HU ist auch in den Afrikawissenschaften gut aufgestellt, da gibt es viele gemeinsame Anknüpfungspunkte. „Insgesamt wollen wir den Versuch machen, Lokalstudien mit einem globalen Blick zu verbinden.“

Das Zentrum will mit Berlinern in Gespräch kommen

Noch stehen die konkreten Forschungsschwerpunkte nicht fest, noch sind keine Projektanträge geschrieben und Drittmittel eingeworben worden. Christian Voß, Professor für Slawistik und ebenfalls einer der Initiatoren des Zentrums, betonte aber schon am Eröffnungsabend: „Wir wollen den Begriff ‚Grenze‘ weit fassen.“ Selbst metaphorische Lesarten seien denkbar. Es geht ausdrücklich nicht nur um Grenzen auf Landkarten oder Grenzmauern zwischen Staaten. Auch die Veränderungen einer Gesellschaft nach einer Grenzverschiebung oder einer Grenzöffnung können ein Thema sein.

All das hat Berlin erlebt. Das Zentrum will deshalb bei öffentlichen Veranstaltungen auch mit den Berlinern ins Gespräch kommen. „Es ist uns sehr wichtig, mit unserer Forschung in die Öffentlichkeit hineinzuwirken“, betont Stefanov. „Gerade jetzt, wo alle so verunsichert sind.“

Passend dazu sprach Gastredner Arjun Appadurai in seinem Eröffnungsvortrag mehr über Ängste als über Grenzen. Appadurai ist ein renommierter Anthropologe, er lehrt an der New York University und hat vor einigen Jahren ein viel beachtetes Buch über das wachsende Misstrauen gegenüber Migranten geschrieben: „Geografie des Zorns“ (Suhrkamp, 2009).

US-Wissenschaftler beschäftigen sich seit Jahren mit "Border Studies"

Ironie der Wissenschaftsgeschichte: Vor allem US-amerikanische Wissenschaftler haben mit ihren „Border Studies“, die sich seit vielen Jahren intensiv mit der mexikanisch-amerikanischen Grenze beschäftigen, maßgeblich dazu beigetragen, dass Grenzen überhaupt zum internationalen Forschungsgegenstand wurden. Die politische Führung im eigenen Land scheint sich für die Erkenntnisse dieser Forschung allerdings nicht zu interessieren.

Doch Trumps Mauer war nicht das zentrale Thema von Appadurais Rede in Berlin. Der Anthropologe machte vielmehr deutlich, dass er in der Globalisierung einen Grund für die wachsende Fremdenfeindlichkeit und das Erstarken nationalistischer Parteien sieht. Die „Ablehnung der liberalen Demokratie“, die derzeit in vielen Ländern der Welt sichtbar wird, hält der Wissenschaftler für extrem besorgniserregend. „Democracy fatigue“, Demokratiemüdigkeit, und ein globaler Rechtsruck seien die Folgen. Doch woher kommen die Ängste gegenüber Migranten und Flüchtlingen?

Einer der Erklärungsansätze von Appadurai lautet: Die globalen Märkte und die komplexen internationalen Verflechtungen von Wirtschaft und Kapital erzeugen bei vielen Menschen ein Gefühl von Identitäts- und Kontrollverlust: Wer sind „wir“ noch in dieser Welt? Was macht „uns“ als Nation noch aus? Laut Appadurai wächst bei Teilen der Bevölkerung seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts die diffuse Sehnsucht nach „purity“, nach vermeintlich kultureller Reinheit. Neue Kategorien der Abgrenzung entstehen – oder alte werden wieder hervorgekramt. Die jeweiligen Minderheiten eines Landes sind dabei ebenso einfache wie beliebte Feindbilder.

Schließung von Grenzen? "Foolish Option"

Am Ende seiner Rede wurde der Wissenschaftler dann noch sehr deutlich. Trumps Botschaft sei die des Rassismus, sagte Appadurai. „Er spricht zu den Weißen; er verspricht ihnen, dass sie wieder die herrschende Klasse werden.“ Trump unterscheide sich dabei nicht von anderen Rechtspopulisten. Auch in Europa und Asien sei völkisches Gedankengut in vielen Ländern auf dem Vormarsch – vor allem die gefährliche Idee der „national purification“, der Säuberung oder Reinigung einer Nation.

Die Schließung von Grenzen erscheint dabei stets als die einfachste und naheliegendste Methode. Der Anthropologe hatte dafür nur zwei Worte übrig: „foolish option“. Verdammt dumme Idee.

Astrid Herbold

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