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Bei der Kindergarteneröffnung ist Ravier nicht der Star. Deswegen spielt er lieber mit den Kinder herum...
© M. Amjahid

Front National in Frankreich: „Der Faschist auf dem Bürgermeistersessel“

Der Bezirksbürgermeister von Nordmarseille ist der ranghöchste Politiker des Front National in Frankreich. Stéphane Ravier will die „Machtübernahme“. Ein Besuch bei einem Mann, der in Paris ein Erdbeben auslösen will. Schon am heutigen Wahltag?

Woche für Woche marschiert eine arabische Hochzeitsgesellschaft mit Tamburin und Freudengeheul in das Rathaus von Stéphane Ravier ein. Ravier ist Bezirksbürgermeister und Senator aus Marseille und somit ranghöchster Politiker für seinen rechtsextremen Front National in Frankreich.

Als gewählter Chef im Rathaus eines der größten Einwandererbezirke des Landes im Norden von Marseille ist Stéphane Ravier also fast jede Woche verpflichtet, seine Unterschrift auf die Heiratsurkunden seiner Mitbürger mit teils sehr frischem Migrationshintergrund zu setzen, herzliche Glückwünsche des Bürgermeisters inklusive. „Das ist so unrepublikanisch, so laut, so unzivilisiert, wie die Hochzeiten feiern“, beschwert sich Ravier über das wöchentliche Spektakel in seinem Haus. Mit seiner Unterschrift auf den Heiratsurkunden ermöglicht er jedes Mal auch grenzüberschreitende Familienzusammenführungen, die der Front National am liebsten verbieten würde.

Denn aus Sicht von Ravier und seiner Partei ist Migration die Mutter aller Probleme. Sein Unmut, als er von seiner neuen Hauptaufgabe erzählt, ist seinem rötlich angelaufenen Gesicht zu entnehmen.

Seit rund einem Jahr ist der 45-Jährige der erste Mann im 13. und im 14. Arrondissement im Norden von Marseille. Seit September 2014 ist er zusätzlich einer von zwei gewählten Senatoren des Front National in der zweiten Parlamentskammer der Republik. An diesem Sonntag stehen die Département-Wahlen an, Umfragen sehen den Front mit bis zu 33 Prozent an der Spitze. Für die „Machtübernahme“ pendelt Ravier zwischen Marseille und Paris. Seiner Parteichefin Marine Le Pen möchte er „die Türen des Elysée aufbrechen“, verkündete er neulich stolz vor hunderten Anhängern.

Dabei ist Stéph, wie ihn seine Freunde vom FN nennen, auf den ersten, ja selbst auf den zweiten Blick ein durch und durch herkömmlicher Politiker: weißes Hemd, dunkler Anzug, schlecht gebundene Krawatte. Er kaut gerne auf Dingen herum. Wenn er gerade keinen Zahnstocher im Mund balanciert, muss seine Brille oder der Stift mit dem Konterfei der Parteichefin herhalten. „Außerdem bin ich eine kleine Naschkatze“, verrät er und bietet ein Stück seiner Lieblingsschokolade an: ivorische weiße Schokolade mit Himbeerstückchen.

Alle anderen Politiker sind für den Front National "Terroristen"

Sandrine D’Angio und Antoine Maggio rauchen eine Zigarette auf dem Parkplatz vor dem Rathaus. Sie stehen bei fast allen öffentlichen Auftritten von Stéphane Ravier an der Seite ihres Chefs, warten brav auf ihn, fahren ihn durch den Bezirk, organisieren seinen Tag. Im wahrsten Sinne spricht Ravier für seine beiden Assistenten, die auch im Bezirksparlament sitzen und die mit großen Ambitionen bei den Kantonalwahlen am 22. und am 29. März antreten. In Paris haben sie Angst vor einem Erdrutschsieg des FN, in Marseille sind sich die Rechtsextremen sicher, dass sie auf Platz eins landen werden.

... der Partiot - wie er sich selbst bezeichnet - arbeitet immer unter der Flagge Frankreichs. Er fühlt sich der Republik besonders verbunden.
... der Partiot - wie er sich selbst bezeichnet - arbeitet immer unter der Flagge Frankreichs. Er fühlt sich der Republik besonders verbunden.
© M. Amjahid

Nachhelfen wollen Sandrine D’Angio und Antoine Maggio, die beiden „Kandidaten von Marine le Pen“ trotz guter Aussichten weiter mit scharfer Rhetorik. Lächelnd greifen sie das politische Establishment aus der konservativen UMP und linken Regierungspartei PS scharf an: „Wie uns UMPS den islamistischen Terror gebracht hat“, steht in großen Lettern auf Flyern, die tausendfach im 16. Kanton im Norden von Marseille verteilt wurden: „Sie haben die Terroristen frei gelassen, einen Pakt mit ihnen geschlossen, unsere Sicherheit gefährdet“, steht dann als Analyse darunter. Die Botschaft: Wenn ihr UMP oder die Sozialisten wählt, dann wählt ihr den Terror.

Die etablierten Politiker in Marseille zeigen sich empört. Stéphane Mari, ein stadtbekannter Sozialist sieht wiedermal eine Grenze überschritten, wenn er und Präsident François Hollande als Terroristen beschimpft werden. In seiner Partei aber auch bei der konservativen UMP machen sie sich lustig über den „ehemaligen Packer im Hafen“ , sie meinen damit den etwas dümmlich auftretenden Maggio, der auf die meisten Fragen nie logische Antworten liefern kann. Sozialisten und Konservative lachen die „doofe Sandrine“ aus, sie lasse Ravier deswegen immer für sich sprechen, weil sie selbst nicht sprechen könne. Bei der FN-Stammwählerschaft kommt diese Überheblichkeit des „UMPS“ schlecht an, nun wollen die „gallischen Senioren“ im Norden von Marseille erst Recht für die Kandidaten von Marine und gegen die „Terroristen“ stimmen.

Ein Ziehsohn von Jean-Marie Le Pen

Seitdem der Front National den Bürgermeister stellt, kommt es bei Bezirksverordnetenversammlung im Norden von Marseille regelmäßig zu Krawallen im Plenarraum. Hier mahnt der Bürgermeister die französischen Journalisten ab.
Seitdem der Front National den Bürgermeister stellt, kommt es bei Bezirksverordnetenversammlung im Norden von Marseille regelmäßig zu Krawallen im Plenarraum. Hier mahnt der Bürgermeister die französischen Journalisten ab.
© M. Amjahid

Als erfolgreichste Figur der Rechtsextremen bei lokalen und nationalen Wahlen in Frankreich betont Ravier häufig, dass er der Ziehsohn von Jean-Marie Le Pen sei. Le Pen Senior, Gründer und Übervater des Front National, ist in den vielen Jahrzehnten als rechtsextreme Leitfigur in Frankreich mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilt worden. Vor allem rassistische und antisemitische Parolen, die Le Pen nie zurücknehmen wollte, kosteten ihn bis jetzt mehrere zehntausend Euro Strafgelder.

Das letzte Gerichtsurteil ist erst einige Tage alt. „Ich leugne meinen Vater nicht“, sagt Stéphane Ravier umso trotziger. Jean-Marie Le Pen sage nur die Wahrheit, und der „ehrliche Patriotismus“ des Front National stoße im Frankreich der Einheitspartei „UMPS“ nur auf Hass und oktroyierte politische Korrektheit. Marine Le Pen, die den Parteivorsitz von ihrem Vater vor vier Jahren geerbt hat, fährt seitdem eine Politik der „Normalisation“. Sie versucht sich vom alten Le Pen abzugrenzen. Le Pen Junior und Ravier brauchen dafür einander, obwohl die gleichaltrigen Parteifreunde, ideologisch und persönlich betrachtet, alles andere als gut miteinander auskommen.

Marine Le Pens Strategie der Normalisierung funktioniert nur mit, nicht gegen ihren parteiinternen Konkurrenten Ravier. Und der braucht den normalen Anstrich ebenso dringend, wie seine Wahlerfolge – vielleicht an diesem Wochenende wieder – zeigen.

Auf dem Terminplan des Bezirksbürgermeisters steht an einem sonnigen Dienstag eine Kitaeröffnung. Eigentlich ein Heimspiel samt positiver Berichterstattung und Bildern mit süßen Kleinkindern. Doch Stéphane Ravier kommt heute ganze zehn Minuten zu spät. Der Oberbürgermeister von Marseille, ein älterer Herr und ein alter Hase des Mitte-Rechts-Lagers, hat da die Krabbelgruppe und die Fotografen schon fest im Griff. Ravier bleibt nur der Platz hinter dem Medientross. „Sie haben wiedermal nicht auf mich gewartet“, flüstert er seiner Assistentin Sandrine D’Angio ins Ohr, die schüttelt den Kopf. Das sei nicht fair, sagt sie. Immerhin sei Ravier demokratisch gewählt. Diesen Satz hat die aussichtsreiche Kandidatin bei den Kantonalwahlen von ihrem Chef, der pflegt bei jeder Gelegenheit zu betonen, dass er „immerhin demokratisch gewählter Bürgermeister und Senator“ sei. Seine Thesen seien also legitim.

Ausgerechnet das Baby mit den blauen Augen

Im neuen Kindergarten riecht es nach Babybrei und Aloe-Vera-Windeln, fast jedes Kind hat mindestens ein Elternteil mit Migrationshintergrund. Ravier lässt die Menschentraube in die Kita-Küche verschwinden und entscheidet sich, zur Krabbelgruppe zurück zu gehen. Alleine. „Monsieur Ravier im Kindergarten, exklusiv für die deutschen Leser“, sagt Ravier, den die französischen Journalisten ignorieren. Der Bürgermeister schaut sich zu seinen Füßen um, bückt sich, greift in die Menge der krabbelnden Kinder und schnappt sich gezielt das eine Baby mit sehr blauen Augen. Das passende Bild für seine Wähler.

Drei Bushaltestellen vom Rathaus entfernt, in der Plattenbausiedlung „Castellas“, hat man aber den Eindruck, hier wohnen gar keine autochthonen Franzosen mehr.

Die Bewohner der kleinen Wohnungen hier sprechen meist algerisches Arabisch, und die meisten von ihnen wissen nicht, wer Stéphane Ravier ist. Sie haben das letzte Mal für François Hollande gestimmt. Seitdem der Präsident alles vermassle, sagt eine Mutter auf dem Spielplatz, hätten sich die meisten im Viertel wieder von der Politik abgewandt. Die Geschichte vom hiesigen FN-Bezirksbürgermeister überrascht und beunruhigt sie zunächst, dann überlegt die Frau im langen maghrebinischen Gewandt nochmal: „Wenn er etwas gegen die Gewalt und gegen die Drogenmafia bei uns macht, kann er von mir aus auch vom Front National sein.“

Anwohner haben sich beschwert, über einen Zebra-Streifen, der gefährlich nahe vor einer Kurve liegt. Ravier zeigt sich engagiert und fotografiert die Gefahrenstelle ab.
Anwohner haben sich beschwert, über einen Zebra-Streifen, der gefährlich nahe vor einer Kurve liegt. Ravier zeigt sich engagiert und fotografiert die Gefahrenstelle ab.
© M. Amjahid

Es sind vor allem wohlhabende, weiße Rentner, die rund um die Plattenbauten in Einfamilienhäusern mit Garten wohnen und die treu Stéphane Ravier wählen. Auf sie kann sich der Bezirksbürgermeister beim Projekt „Machtübernahme“ verlassen. Die hiesige Abgeordnete der Sozialisten in der „Assemblée Nationale“ könnte in den nächsten Wochen ihr Mandat wegen Korruptionsvorwürfen verlieren. Eine Chance für Ravier, kurzfristig und mit Hilfe seiner Stammwählerschaft an einen einflussreicheren Posten in Paris zu gelangen.

„Es kann nicht sein, dass unsere Omas aus Angst keinen Schmuck mehr beim täglichen Einkauf tragen können“, sagt Ravier. Leider habe er noch nicht die Kompetenz, um für mehr Sicherheit zu sorgen, er würde am liebsten die Polizeipräsenz so schnell wie möglich „wegen denen“ verstärken. Denn die Mutter aller Probleme, das sei wie gehabt die „ungebändigte Migration“: Sittenverfall, Terrorgefahr, Sozialbetrug, Drogenmafia, Arbeitslosigkeit, verdreckte Spielplätze, die Arabisierung Frankreichs, die Wirtschaftskrise und mehr, daran seien „die“ schuld. Ravier wagt es nicht, das Wort Araber auszusprechen, so wie es sein Ziehvater Jean-Marie Le Pen regelmäßig macht. Er lernt von der Parteichefin.

Nichts geht mehr im Norden von Marseille

Zu Raviers Job gehört auch die hiesige Kunst, die manchmal sehr multikulturell sein kann...
Zu Raviers Job gehört auch die hiesige Kunst, die manchmal sehr multikulturell sein kann...
© M. Amjahid

„Ravier ist so wie Janus“, sagt Samuel Johsua. Mindestens zwei Gesichter habe Monsieur Bürgermeister, analysiert sein schärfster Gegner in der Bezirksverordnetenversammlung. Johsua von der linken Zwei-Mann-Fraktion des Front de Gauche sieht seine Aufgabe in den nächsten fünf Jahren in der absoluten Résistance gegen den Front National im Bezirk. Dementsprechend wackelt er an diesem Dienstagnachmittag nervös auf seinem Stuhl, hebt die Hand, um an das Wandermikrofon zu kommen. Die letzte Sitzung mit den Bezirksabgeordneten endet im Eklat, als Stéphane Ravier die anwesenden Journalisten aus dem Saal werfen lässt und danach im Namen des Bezirksbürgermeisters alle Medienvertreter als „gleichgeschaltete und gehirngewaschene Pravda-Schreiberlinge“ auf seinem Blog bezeichnet.

Auf der Tagesordnung steht heute die Verabschiedung des Bezirkshaushaltes, doch die Tagesordnung spielt hier seit einem Jahr keine Rolle. Samuel Johsua bekommt endlich das Mikrofon in die Hände. Er bezeichnet den „Monsieur auf dem Bürgermeistersessel“ als Faschisten, fragt, warum Ravier Angst vor Transparenz und der Presse habe. Der Bürgermeister, der von sich behauptet, er wende konsequent das Gesetz an – denn irgendwann wolle er, dass die anderen seine Gesetze ebenso konsequent anwenden –, gesteht jedem Redewilligen eine Minute Rederecht zu. Und dann, weil die Geschäftsordnung es erlaubt, setzt Ravier zu einer Stunde Monolog an.

Stéphane Ravier liebt Cola und...
Stéphane Ravier liebt Cola und...
© M. Amjahid

Nazivergleich auf französisch

Nach zwanzig Minuten wird es laut im Saal. „Liberté, Égalité, Fraternité“, steht auf der Wand. Einige Abgeordnete verlassen unter Protest die Versammlung. Andere schreien Ravier ins Wort. Der Bürgermeister, auf seiner Brille kauend, hat seinen Büroleiter zu den anwesenden französischen Journalisten auf den Zuschauerplätzen geschickt. Man streitet nun über Pressefreiheit. Die Repräsentanten des Front National, Sandrine D’Angio und Antoine Maggio bleiben dabei auffällig still, für sie spricht wieder der Bürgermeister. Und der Bürgermeister kocht vor Wut und kommt dann irgendwann im Getümmel nicht an einem historischen Vergleich vorbei: „Die Deserteure, die den Saal verlassen, können gleich nach London fahren!“ Eine Anspielung auf den General de Gaulle, ein „Verräter der Nation“ laut herrschender Meinung im Front National. Philippe Pétain, den Premierminister und Nazi-Kollaborateur in Vichy, habe de Gaulle mit seiner Flucht 1940 nach London verraten.

Ravier lässt sich nach einem aufregenden Tag in seinen Bürostuhl fallen. Er greift zu Cola und ivorischer weißer Schokolade mit Himbeerstückchen. Irgendwie müsse er die „an die Stalinisten“ verloren gegangene Energie wieder reinholen, sagt er. Es hallt leicht im großen, leeren Büro. Sein sozialistischer Vorgänger habe ihm keine Möbel hinterlassen. Auf einem Regal türmt sich der Staub, eine kleine Frankreichfahne hat Ravier darauf platziert. Er habe sie im Shop des Senats in Paris gekauft, sagt er und grinst kauend. Ravier entschuldigt sich für die voreingenommene französische Presse und verlangt nach kritischen Fragen, denn er habe ja nichts zu verbergen:
Was haben Sie, Herr Bürgermeister, bis jetzt an konkreten Projekten in Ihrem Bezirk umgesetzt?

Stéphane Ravier überlegt. Er nippt an seinem mit Cola gefüllten Plastikbecher. Eine Minute absolutes Schweigen. Er schüttelt den Kopf, das sei eine schwierige Frage. Als Bezirksbürgermeister habe er noch nicht so viel umsetzen können in den vergangenen vier Quartalen. Jetzt habe er aber sowieso die Wahlen im Blick.

Diese Recherche wurde ermöglicht mit einem Stipendium des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg und der Robert Bosch Stiftung.

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