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Ursula von der Leyen (CDU) ist neue EU-Kommissionspräsidentin.
© Francisco Seco/AP/dpa
Update

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen: Der deutsche Einfluss in Brüssel wächst nicht

Die Mehrheit war knapp, konservative Europäer stimmten mit Nein - und Generalsekretär Selmayr muss gehen. Drei unbequeme Lehren aus der Wahl in Straßburg.

Es ist gut, dass Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt wurde. Eine Niederlage im Europaparlament wäre schlecht gewesen. Schlecht für Europa, weil der dann wieder aufbrechende Machtkampf zwischen dem Rat der Regierungschef und dem Parlament die EU in eine Krise gestürzt hätte. Und schlecht für Deutschland, denn wer in Europa hätte bei der dann nötigen erneuten Kandidatensuche nochmals auf eine Person aus Deutschland gesetzt, nachdem so viele deutsche Europaabgeordnete gegen die Kandidatin aus ihrem eigenen Land gestimmt hatten?

Deutschland hat jetzt mehr zu sagen! Wirklich?

Aber: Muss man, nur weil es gerade so nochmal gut gegangen ist, gleich Jubelgesänge anstimmen, unterlegt mit nationalem Stolz? Endlich wieder jemand aus Deutschland nach sechs Jahrzehnten Pause! (Der letzte war Walter Hallstein 1958.) Und Deutschland hat jetzt - angeblich - mehr zu sagen!

Das stimmt doch gerade nicht. Der deutsche Einfluss wächst nicht - aus drei Gründen. Erstens war das Ergebnis knapp. Von der Leyen kann sich als Kommissionspräsidentin nicht auf eine breite Mehrheit im Parlament stützen. Den Rückhalt durch eine ganz, ganz große Koalition hatte sie nur bei der Nominierung im Rat der Regierungschef. Im Parlament fand sie nur eine hauchdünne Mehrheit.

Diese Mehrheit, das ist die zweite Lehre, kann sie zwar ja nach Bedarf ein wenig nach rechts oder links verschieben. Doch was sie durch Zuwendung zur einen Seite gewinnt, verliert sie auf der anderen - und umgekehrt.

Die Abstimmung war zwar geheim. Aber so viel lässt sich aus den öffentlichen Stellungnahmen schon herauslesen: Nach ihrer fulminanten Rede, mit der sie proeuropäische Kräfte links der Mitte erfolgreich umgarnte, waren mehr Sozialdemokraten und Liberale als zunächst gedacht bereit, für sie zu stimmen. Für einige Stunden sah es am Dienstag so aus, als könne sie auf über 400 Stimmen kommen.

Die Mehrheit im Parlament bleibt äußerst knapp

Doch dann stellte sich heraus: Viele Konservative, die ursprünglich für sie stimmen wollten, empfanden diese Rede als Zumutung. Zdzislaw Krasnodebski, zum Beispiel, ein Europaabgeordneter aus der nationalpopulistischen polnischen Partei PiS, erklärte auf Phoenix, warum die Rede in die falsche Richtung gehe. Es klang nach einer Begründung, warum die PiS nicht für von der Leyen stimmen kann. So verstand ihn auch der Phoenix-Kollege, der das Interview führte.

Dabei hatte die PiS-Regierung von der Leyens Kandidatur unterstützt und als politischen Sieg ausgegeben. Am Mittwoch behauptete die PiS-Regierung in Warschau dann, alle PiS-Abgeordneten hätten für von der Leyen gestimmt. Man erwarte ein Entgegenkommen für das konstruktive Verhalten. Das knappe Ergebnis lässt es eher unwahrscheinlich erscheinen, dass die PiS geschlossen für von der Leyen gestimmt hat.

Umgekehrt hätte von der Leyen mit einer anders ausgerichteten Bewerbungsrede, die für Kräfte rechts der Mitte freundlicher geklungen hätte, dort Stimmen gut gemacht. In dem Fall hätte sie jedoch im Spektrum links der Mitte Unterstützung verloren.

Das Bemühen um Mehrheiten im Parlament wird in den nächsten fünf Jahren zum Verschiebebahnhof. Je nach Projekt kann man die Mehrheit weiter rechts oder weiter links suchen. Oft wird aber nur eine knappe Mehrheit herauskommen, weil dieses Parlament in Grundfragen gespalten ist.

Ganz Rechts und ganz Links stimmt mit Nein

Bemerkenswert ist auch: Die ganz Linken und die ganz Rechten stimmten gegen sie. Das sollten sich vor allem jene in Deutschland notieren, die gerne so tun, als seien die Kräfte, die europäische Lösungen ablehnen, nur auf der Rechten zu finden, nicht aber auf der Linken.

Ein kleiner Trost: Ganz neu ist die knappe Mehrheit nicht. Das ging auch schon Kommissionspräsident José Manuel Barroso vor der zweiten Amtszeit 2009 so. Das Risiko, dass er durchfallen könnte, galt als so groß, dass die Wahl damals vom Juli in den September verschoben wurde.

Die dritte Lehre ist: Deutschland bezahlt einen hohen Preis an verlorenem Einfluss dafür, dass von der Leyen an die Spitze rückt. Sie musste Martin Selmayr opfern, den Generalsekretär der Kommission und mächtigen Strippenzieher. Kommissionspräsidentin und Generalsekretär aus der selben Nation - das hätte Argwohn vor zu viel deutscher Macht geweckt. Und hätte sie die Wahl kosten können.

Das Selmayr-Opfer: Deutschland verliert an Einfluss

Dahinter verbirgt sich eine generelle Einsicht, wo die Macht in der EU zu verorten ist: bei den Personen und Gesichtern, die ein Amt gut sichtbar für die Öffentlichkeit bekleiden? Oder bei denen, die eine Institution de facto leiten, die Sacharbeit machen und viele Details entscheiden? Sie sind jedoch kaum sichtbar für die Öffentlichkeit, weil sie die Nummer zwei hinter dem öffentlichen Gesicht sind. Frei nach dem Motto eines Behördenleiters: Es ist ziemlich egal, wer unter mir Minister ist. Oder eben Kommissionspräsident. Oder Parlamentspräsident. Oder Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU.

Wenn man es so betrachtet - die eigentliche Macht hat die kaum sichtbare Nummer 2 einer Institution, weil sie die Fäden in der Hand hält -, neigt sich für Deutschland ein Zeitraum realer, aber wenig beachteter Macht dem Ende zu. In den letzten Jahren stand keine Deutsche und kein Deutscher an der Spitze der Kommission, der Außen- und Sicherheitspolitik sowie des Parlaments (seit Martin Schulz in die Innenpolitik wechselte). Aber die Nummer zwei war überall deutsch besetzt: Generalssekretär der Kommission war Martin Selmayr. Generalsekretär des Parlaments ist bis auf weiteres Klaus Welle. Und Generalsekretärin des Europäischen Auswärtigen Dienstes ist Helga Schmid.

Dank dieser drei Posten hatte Deutschland sehr große und ganz reale Macht in Brüssel. Und die Partner konnten diesen überproportionalen Einfluss, auch wenn sie bisweilen schimpften, ertragen, weil er nicht auf den ersten Blick sichtbar war. In der ersten Reihe standen Nicht-Deutsche. Nun rückt Ursula von der Leyen sichtbar an die Spitze. Dafür muss Deutschland bei den im Verborgenen mächtigen Nummer-zwei-Posten zurückstecken. Nicht bei allen auf einmal. Aber Selmayr wird nicht das einzige Opfer bleiben.

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