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Protest in London gegen den Brexit
© Andy Rowland/imago images/PRiME Media Images

Noch ein Aufschub: Der Brexit und die Kunst des Scheiterns

Großbritanniens Austritt ist quälend, er blockiert London und die EU. Letztlich kann der lange Abschied dennoch ein positives Ergebnis bringen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

So viel Drama, doch am Ende wieder – nichts. So geht das nun seit dreieinhalb Jahren. Die Tories scheitern immer wieder an der Aufgabe, den Brexit zu liefern, den das Volk im Referendum 2016 beschlossen hat. Solange es ihnen nicht gelingt, eine Parlamentsmehrheit für einen Austrittsvertrag zu finden, bleibt ihr Land Mitglied der EU, ob ihnen das gefällt oder nicht.

Wie lange soll das so weitergehen? Die Blockade in London hat einen hohen Preis. Sie versperrt den Briten den Weg in ihre Zukunft und hält die 27 anderen EU-Staaten davon ab, sich mit drängenderen Fragen zu befassen – ganz voran die, wie Europa seine Werte, seine Sicherheit und seine Lebensart in der Welt von morgen behaupten kann.

Vor 45 Jahren erschien ein Buch, das viele in der Generation der heutigen Entscheider geprägt hat: Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. Der Philosoph Robert Pirsig leitet aus der Motorradreise mit seinem Sohn praktische Lehren ab. Man könne eine Lösung finden, wenn man das vor einem liegende Problem nicht statisch, sondern dynamisch betrachte. Der Lenker lockert sich, es fehlt eine Unterlegscheibe. Eine weggeworfene Bierdose, ein Ärgernis in der statischen Betrachtung, bietet Abhilfe, wenn man ihr Potenzial dynamisch sieht und ihr eine neue Funktion gibt.

Boris Johnson hatte am Sonnabend keinen Erfolg mit dem neuen Brexit-Vertrag. Es half nichts, eine Art nationalen Notstand zu suggerieren. An einem Wochenende war das Parlament zuletzt vor 37 Jahren zusammengetreten, nach dem militärischen Angriff Argentiniens auf die britischen Falklandinseln. Die Abgeordneten nahmen sich einfach mehr Zeit, obwohl das eine äußerst knappe Ressource ist angesichts der Weltlage.

Sie zwangen Johnson, die EU um Verlängerung zu bitten – was der eigentlich ablehnt. Nun musste er aber genau das tun.

Nach und nach kommt die Klarheit

Ein Stillstand ist das aber nicht. Nach und nach verschafft das Parlament in London sich, den britischen Bürgern und der EU Klarheit, was politisch möglich ist. Es weist die eigene Regierung in die Schranken und widerlegt mit ätzender Schärfe die wolkigen Versprechen der Brexiteers, wie billig der Austritt zu haben sei und welche Vorteile er bringe.

Großbritannien muss seine Verpflichtungen aus dem Karfreitag-Abkommen für die irische Insel respektieren, auch wenn Theresa May mit dem Backstop dreimal gescheitert ist. Einen No-Deal-Brexit mit all seinen Risiken lehnt die Mehrheit konsequent ab. Und wenn Johnson zu tricksen versucht, legen ihm die Abgeordneten umso engere Fesseln an.

Scheitern kann zu Lösungen führen

Scheitern ist nicht per se schlecht. Es kommt darauf an, ob sich daraus Wege zur Lösung ergeben. Offene Gesellschaften sind autoritären Gesellschaften nicht überlegen, weil sie weniger Fehler machen. Sondern weil sie Widerspruch zulassen, und dank des Widerspruchs Fehler schneller korrigieren. Die Erfahrungen mit dem Brexit stellen den Glauben auf die systemische Überlegenheit auf eine harte Probe.

Manches, was die Theorie verspricht – wenn die Regierung abgewirtschaftet hat, steht eine handlungsfähige Opposition bereit –, leistet die Praxis nicht. Wer will schon Jeremy Corbyn statt Boris Johnson? Wenn aber der quälend langsame Brexit-Prozess dazu führt, dass die Briten mit einem praxistauglichen Vertrag austreten oder sich nach Prüfen der realen Folgen zum Bleiben entscheiden, hätte sich das Scheitern als Kunst erwiesen.

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