Unterhaus entscheidet über Brexit: Johnsons Zittern vor der Abstimmung
Zum vierten Mal stimmt das britische Parlament am Samstag über den Austrittsvertrag aus der EU ab. Premier Johnson droht eine Niederlage.
An diesem Samstag kommt für Boris Johnson die Stunde der Wahrheit. Die Sondersitzung des britischen Parlaments zum Brexit-Paket beginnt um 9.30 Uhr Ortszeit. Dann wird der Premierminister seine Regierungserklärung abgeben. Es geht dann nicht nur um den EU-Austritt, sondern auch um die demokratischen Institutionen und letztlich um den Zusammenhalt des Landes.
Zum vierten Mal müssen sich die britischen Volksvertreter entscheiden, ob sie dem ausgehandelten Paket aus Austrittsvertrag und politischer Zukunftserklärung zustimmen wollen. Dreimal ist die frühere Premierministerin Theresa May gescheitert. Jetzt droht Boris Johnson eine Niederlage.
Das Unterhaus hat 650 Mitglieder. Weil aber die sieben Mandatsträger der irisch-republikanischen Sinn Féin sowie der Parlamentspräsident John Bercow und seine beiden Stellvertreter nicht abstimmen, ist die entscheidende Zahl in Westminster 320. Das wäre ein Patt. Dann gibt der Speaker traditionell seine Stimme für den Regierungsantrag ab.
Die Tory-Fraktion verfügt derzeit über 288 Mitglieder, die bisher regierungstreuen Unionisten der DUP haben ihre Ablehnung angekündigt. So warb der Premier am Freitag um die vor sechs Wochen aus Partei und Fraktion geworfenen Ex-Torys, um andere unabhängige Abgeordnete sowie Brexit-willige Labour-Mandatsträger. Auf der anderen Seite versuchten die Oppositionsparteien ihre Leute bei der Stange zu halten.
Labour, die wichtigste Oppositionspartei, ist in der Brexit-Frage so zerrissen wie das Land. Führende Aktivisten wollen ein zweites Referendum durchsetzen, Brexiteers in ihren Reihen drohen sie mit dem Entzug ihrer Wahlkreise. Doch ob die neuerliche Volksabstimmung am Samstag überhaupt zur Wahl stehen wird, blieb bis spät in den Freitag hinein offen.
Britische Art der Improvisation
Am Freitagabend wollte sich das Sessionsgericht von Edinburgh zu einem Eilverfahren äußern, mit dem Brexit-Gegner die ganze Parlamentsdebatte in letzter Minute noch verhindern wollten. Zur Begründung führten sie ironischerweise ein Gesetz an, das eingefleischte Brexiteers im vergangenen Jahr durchgesetzt hatten: Ihrer Majestät Regierung dürfe keinesfalls der Aufteilung des Vereinigten Königreichs in unterschiedliche Zollterritorien zustimmen. Streng genommen ist damit der vorliegende Austrittsvertrag illegal, sieht er doch eine Sonderregelung für Nordirland vor.
Die sehr britische Art der Improvisation steht in der Kritik. Plötzlich gibt es wieder Rufe nach einem Konvent, einer Art Nationalversammlung, die sich mit der Balance staatlicher Institutionen und deren Kontrolle befassen soll. Das Unwohlsein geht weit über Boris Johnson hinaus, aber der Premier hat es gefördert. Seine Missachtung des Parlaments rief den Supreme Court auf den Plan.
Tagelang debattierte das Land darüber, ob der Erste Minister Ihrer Majestät geltendes Recht einhalten würde. Das erst im Vormonat beschlossene sogenannte Benn-Gesetz verpflichtet ihn zu einem Antrag auf Verlängerung der Austrittsperiode über den 31. Oktober hinaus, falls das Parlament nicht bis Samstagabend einer Brexit-Lösung zugestimmt hat. Aber anonyme Berater des Premiers ließen durchblicken, Johnson werde seine Unterschrift erst dann leisten, wenn die Gerichte ihm die Polizei ins Haus schicken.
Dass sich dieser Tage in London ernsthafte Verfassungsexperten den Kopf über die Frage zerbrechen, unter welchen Umständen Königin Elisabeth II. ihren Premierminister entlassen könnte, hat nichts mit dem Brexit, sondern ausschließlich mit Boris Johnson zu tun. Er und seine Berater scheinen Joseph Schumpeters makroökonomisches Konzept der „schöpferischen Zerstörung“ in die Politik übertragen zu wollen.