Deutschland vor der Europawahl: Den Nationalisten nutzt die Konfliktscheu der EU-Freunde
Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Europa denkt nicht daran, ihren historisch gewachsenen Nationalstaat aufzugeben. Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit.
Heinrich August Winkler lehrte Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Herbst erscheint „Werte und Mächte. Geschichte des Westens in einem Band“. Der Text erschien zuerst in der Ausgabe 03/2019 der Zeitschrift „Internationale Politik“.
Von allen deutschen Parteien hat sich keine im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament so ambitiös geäußert wie die FDP. In ihrem Ende Januar 2019 verabschiedeten Wahlprogramm fordert sie die Einberufung eines (zweiten) europäischen Verfassungskonvents bis spätestens 2022. Und auch der Auftrag der Konstituante wird eindeutig festgelegt: Sie soll ein Europa schaffen, das demokratisch, dezentral und bundesstaatlich verfasst ist.
Das noble Ziel, den bestehenden Staatenverbund in einen Bundesstaat zu verwandeln, ist in den vergangenen Jahren nur noch selten beschworen worden. Die deutsche Bundeskanzlerin hat zuletzt im Januar 2012 ihre Vorstellungen von einer föderativen Zukunft der Europäischen Union skizziert: Im Laufe eines langen Prozesses würden die Mitgliedstaaten der EU mehr Kompetenzen an die Kommission abgeben, „die dann für die europäischen Zuständigkeiten wie eine europäische Regierung funktioniert.
Dazu gehört ein starkes Parlament. Die gleichsam zweite Kammer bildet der Rat mit den Regierungschefs.“ Eineinhalb Jahre später, während des Bundestagswahlkampfs im August 2013, setzte Angela Merkel in einem Fernsehinterview deutlich andere Akzente: „Mehr Europa ist mehr als nur eine Verlagerung einer Kompetenz vom Nationalstaat nach Europa, sondern ich kann auch mehr Europa haben, indem ich mich in meinem nationalen Handeln strenger und intensiver darauf einlasse, das mit anderen zu koordinieren.
Das ist auch eine andere Form von mehr Europa.“
14 Jahre nach dem Inkrafttreten der Europäischen Währungsunion begann sich die deutsche Position auf dem Gebiet der Europapolitik der britischen anzunähern. Der Wunsch, Großbritannien in der EU zu behalten, war ein wesentlicher Grund für Merkels Bekenntnis zum Intergouvernementalismus. Ihre Kurskorrektur war auch ein Signal an den im Mai 2012 gewählten französischen Staatspräsidenten François Hollande, mit dem sich bis dahin keine Übereinstimmung in Sachen politische Union und Reform der EU hatte erzielen lassen.
Nicht zufällig verwies Merkel in dem Interview auf das Beispiel der Niederlande. Deren Außenminister Frans Timmermans hatte im Juni 2013 erklärt, die Zeit einer „ever closer union“ („immer engeren Union“) in jedem möglichen Politikfeld sei abgelaufen. Künftig solle die Devise gelten: „National, wo es möglich ist, europäisch, wenn es sein muss.“ Timmermans, heute Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, sprach aus, was die meisten europäischen Regierungen dachten.
Ein gemeinsamer Ausschuss könnte hilfreich sein
Interpretiert man die „ever closer“-Formel im Sinne einer bundesstaatlichen Vertiefung der Europäischen Union, ist heute vielleicht noch in Luxemburg und Belgien und in Teilen der deutschen Öffentlichkeit mit Zustimmung zu rechnen, aber kaum irgendwo sonst. Wer die Mitgliedsstaaten der EU auf dieses Ziel einschwören möchte, führt Europa nicht enger zusammen, sondern spaltet es.
Dass dem so ist, ist keine Folge des europaweit erstarkenden Nationalpopulismus. Es ist vielmehr eine Konsequenz des Demokratiedefizits der EU oder, anders gewendet, der fortschreitenden Verselbständigung der europäischen Exekutivgewalt – einer Entwicklung, die mit dem Vertiefungsschub von Maastricht Ende 1993 in ein neues Stadium getreten ist und populistischen Anti-EU-Parteien kräftigen Auftrieb gegeben hat.
Eine oft gehörte Antwort auf die Frage, wie sich das Demokratiedefizit der EU beheben lasse, lautet, es gelte, das Europäische Parlament zu stärken und so die Europäische Union Schritt für Schritt zu parlamentarisieren.
Dagegen spricht, dass das Europäische Parlament über eine geringere demokratische Legitimation verfügt als nationale Parlamente. Wäre das Straßburger Parlament nach dem demokratischen Prinzip „one person, one vote“ zusammengesetzt, müsste es, um auch der Bevölkerung kleiner Mitgliedstaaten eine angemessene Vertretung zu verschaffen, mehrere tausend Abgeordnete umfassen; es wäre also nicht arbeitsfähig.
Es gibt mithin gute, ja zwingende Gründe, die kleineren Staaten auf Kosten der größeren zu bevorzugen. Angesichts der immer noch begrenzten Rechte des Europäischen Parlaments ist der Mangel an demokratischer Legitimation hinnehmbar. Geleugnet werden aber darf er nicht.
„Mehr Europa“ auch um den Preis von weniger Demokratie: Eine solche Politik zu betreiben, heißt, dem europäischen Projekt zu schaden. Wer dieses Projekt den Grundprinzipien der Demokratie entsprechend weiterentwickeln will, muss konsequenterweise die „Integrationsverantwortung“ der nationalen Parlamente stärken. Die europapolitischen Entscheidungen der nationalen Parlamente lassen sich besser koordinieren und synchronisieren; ein gemeinsamer Ausschuss könnte dabei hilfreich sein.
Von der demokratischen Legitimation der europäischen Politik hängt ihr Rückhalt in den Staaten ab, aus denen die Union besteht. Wer meint, das Europäische Parlament könne längerfristig an die Stelle der nationalen Parlamente treten, jagt einer ahistorischen Utopie nach und fördert wider Willen, was er zu bekämpfen glaubt: den Nationalismus.
Es fehlt an strategischer Klarheit
Die Freunde Europas haben Grund zur Selbstkritik. Die nationalistischen Parteien hätten nicht so viel Zulauf, wären die Befürworter der europäischen Integration Grundsatzfragen wie der nach der Zukunft der Nationen und der Nationalstaaten in einem vereinten Europa und damit nach der Finalität des Einigungsprozesses nicht seit Langem beharrlich ausgewichen.
Der Paradigmenwechsel von der „ever closer union“ zur „ever closer cooperation“, den auch Deutschland, vertreten durch seine Kanzlerin, vollzogen hat, ist ganz beiläufig erfolgt; er war nicht Gegenstand einer Regierungserklärung und klärender Parlamentsdebatten.
Die europapolitischen Initiativen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron vom Sommer 2017 blieben nicht nur deswegen unbeantwortet, weil in Deutschland erst eine Bundestagswahl und dann langwierige Koalitionsverhandlungen anstanden. Es fehlte vielmehr im Kanzleramt wie in den Parteizentralen der großen Koalition an strategischer Klarheit über das, was Deutschland wollen sollte.
Europawahlen verleiten die Parteien sehr viel stärker als nationale Wahlen dazu, ihren Anhängern zu viel zu versprechen. Die Propagierung des Bundesstaats Europa durch die FDP ist da nur ein aktuelles Beispiel. Die Grünen etwa fordern ein europäisches Einwanderungsgesetz, die Partei Die Linke eine einmalige Millionärsabgabe in allen EU-Staaten, ein Verbot von Rüstungsexporten, die Auflösung der Grenzschutzagentur Frontex sowie des Grenzüberwachungssystems Eurosur, die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer wie die SPD einen gemeinsamen ständigen Sitz der EU im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die SPD überdies die Umwandlung des Europatags 9. Mai in einen gemeinsamen europäischen Feiertag.
Plausibler klingt die Forderung der Sozialdemokraten, im europäischen Ministerrat bei außenpolitischen Entscheidungen das Einstimmigkeitsprinzip durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen. Doch abgesehen davon, dass diese Änderung erst einmal einstimmig beschlossen werden müsste, drängt sich noch ein anderer Einwand auf: Wie sich im Herbst 2015 während der Migrationskrise gezeigt hat, können politisch umstrittene Mehrheitsentscheidungen vorhandene Spaltungen noch vertiefen. Eine einende Wirkung darf man sich von der Abschaffung der Einstimmigkeit also kaum versprechen.
Die Kunst, europäisch zu reden und national zu handeln
Der Öffentlichkeit wohlklingende, aber kaum durchsetzbare Vorschläge zu unterbreiten, ist keine deutsche Spezialität. Wenn Macron sich Anfang März in seinem „Brief an die Europäer“ für einen „an jedes Land angepassten und jedes Jahr gemeinsam neu verhandelten Mindestlohn“ ausspricht, wird er kaum annehmen, dass ein Land wie Bulgarien sich mit einer Regelung einverstanden erklärt, die nach eigener Einschätzung zulasten der Wettbewerbsfähigkeit gehen würde. Sollen andere, wirtschaftlich stärkere Länder, obenan Deutschland und Frankreich, in die Bresche springen? Das bleibt offen.
Was die europafreundliche Rhetorik angeht, übertrifft Macron alle anderen Staats- und Regierungschefs der EU. Aber wenn er von europäischer Souveränität und einer europäischen Armee spricht, ist damit keine Preisgabe französischer Hoheitsrechte gemeint. Die alleinige Verfügungsmacht Frankreichs über seinen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und seine Atomwaffen ist sakrosankt. Was bei Macron supranational klingt, sind in Wirklichkeit vieldeutige Metaphern.
Auf die Kunst, europäisch zu reden und national zu handeln, verstehen sich deutsche Politiker freilich auch. Der Bau der Gaspipeline Nord Stream ist dabei ein besonders eklatantes, parteiübergreifendes Beispiel. Wenn die SPD eine gemeinsame, parlamentarisch kontrollierte Armee fordert, denkt sie wohl kaum an die Aufgabe des deutschen Parlamentsvorbehalts in Sachen Out-of- area-Einsätze der Bundeswehr – es sei denn, es gelänge, alle europäischen Staaten auf ein analoges Vorbehaltsrecht des Europäischen Parlaments zu verpflichten, wehrpolitisch also ein „deutsches Europa“ zu schaffen.
Von einigen wirklich brennenden Fragen ist im deutschen Europawahlkampf 2019 nur selten die Rede. Ist die Europäische Union noch eine Wertegemeinschaft? Gegen die offene Missachtung der Rechtsstaatsregeln, wie sie in den Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993 und dem Lissabon-Vertrag von 2009 niedergelegt sind, durch Ungarn, Polen und Rumänien hat die EU bislang nicht viel ausrichten können.
Was bleibt vom Postulat, Europa müsse in wichtigen außenpolitischen Fragen mit einer Stimme sprechen, wenn einige Mitgliedstaaten sich wirtschaftlich von Russland oder der Volksrepublik China so abhängig gemacht haben, dass sie moskau- oder pekingkritische Beschlüsse der Gemeinschaft nicht mehr mittragen wollen oder können? Was will die EU dem Unilateralismus Donald Trumps entgegensetzen? Was bleibt von der Idee eines avantgardistischen Kerneuropas, wenn ein Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Währungsunion wie Italien auf Kollisionskurs zu Brüssel und zum gemeinsamen Regelwerk der EU geht?
Populisten und Nationalisten sind Nutznießer von Versäumnissen
Da Änderungen der verfassungsähnlichen europäischen Verträge der Zustimmung aller Mitgliedstaaten bedürfen, ist es in den meisten Fällen eine Illusion, offenkundige Missstände auf dem Weg der Vertragsänderung beseitigen zu wollen. Aber nichts hindert die im weitesten Sinn liberalen Demokratien innerhalb der EU daran, enger zusammenzuarbeiten und so ein Gegengewicht zu den „illiberalen Demokratien“ zu schaffen, ehe sich deren Zahl, ob mit oder ohne den Beitritt von so problematischen Kandidatenstaaten wie Serbien, noch vergrößert. Eine bessere Abstimmung der liberalen Demokratien ist aber auch über den Rahmen der EU hinaus dringend erforderlich.
Großbritannien bliebe auch nach einem Brexit durch seine politische Kultur den EU-Staaten eng verbunden. Dasselbe gilt für die einstigen britischen Siedlungskolonien Kanada, Australien und Neuseeland. Und es gilt, trotz Donald Trump, für die Vereinigten Staaten von Amerika. Nicht nur auf dem Gebiet der Verteidigung bleibt Europa auf eine enge Zusammenarbeit mit den USA angewiesen.
Was wir so gern die „europäischen Werte“ nennen, sind in Wahrheit westliche, im hohen Maß von Amerika geprägte Werte. Wenn der Westen noch eine Zukunft haben soll, müssen die liberalen Demokratien Europas einer weiteren transatlantischen Entfremdung mit aller Kraft entgegenwirken.
Populisten und Nationalisten sind Nutznießer von Versäumnissen und Fehlern der Verteidiger der liberalen Demokratie. Ein besonders schwerwiegender Fehler war und ist es, der Frage nach der Finalität des europäischen Einigungsprozesses auszuweichen, ja sie zu verdrängen. Die Europäische Union ist ein Staatenverbund postklassischer Nationalstaaten. Postklassische Nationalstaaten unterscheiden sich von den älteren, klassischen, voll souveränen Nationalstaaten dadurch, dass sie einige ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben und andere auf supranationale Einrichtungen übertragen haben.
Wer die Parole ausgibt, es gelte, die Nationalstaaten in einem vereinigten Europa aufzulösen, übersieht, dass die überwältigende Mehrheit der Europäerinnen und Europäer gar nicht daran denkt, ihren historisch gewachsenen Nationalstaat aufzugeben. Zudem bildet der Nationalstaat in Europa bis heute den sichersten Hort von Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie. Um diese Errungenschaften zu bewahren und weiterzuentwickeln, bedarf es einer immer engeren Zusammenarbeit der europäischen Staaten, die sich zu diesen Werten bekennen. Dieses Ziel ist bescheidener als das eines europäischen Bundesstaats oder einer europäischen Republik. Aber es ist realistischer und demokratischer als jede nur vermeintlich europafreundliche Utopie.