Zwischenfall im Berliner Landgericht: Bombendrohung im Prozess wegen Bombendrohungen
Die Hauptverhandlung gegen André M. beginnt mit einem Zwischenfall. Ein mutmaßlicher Komplize namens "NSU 2.0" attackiert mit einem fanatischen Fax die Richter.
Es war auf zynische Weise der passende Auftakt zum Prozess. Kurz vor Beginn der Hauptverhandlung gegen André M., der bundesweit rechtsextreme Bombendrohungen verschickt haben soll, ging am Dienstag beim Landgericht in Moabit eine rechtsextreme Bombendrohung ein.
Der Vorsitzende Richter der 10. Strafkammer, Thorsten Braunschweig, unterbrach die Verhandlung noch vor Verlesung der Anklage, alle Prozessbeteiligten und die wegen der Coronakrise nur wenigen Journalisten und Zuschauer verließen den Saal. Polizei und Justizwachtmeister suchten einen Teil des Gebäudes ab, fanden aber nichts.
Rechtsextremist fordert Freispruch für den Angeklagten
Ein Rechtsextremist, der sich „NSU 2.0“ nennt, hatte ein Fax geschickt, in dem von „zahlreichen Sprengsätzen“ die Rede ist und Journalisten ein Blutbad angedroht wird. Der Absender bezog sich auf den Prozess gegen André M., vermutlich handelt es sich um einen Komplizen.
André M. hatte nach Erkenntnissen der Ermittler einige Bombendrohungen mit einem bislang unbekannten Kumpan abgesprochen, der selbst auch zahlreiche Hassmails verschickt und Namen benutzt wie „NSU 2.0“, „Wehrmacht“ und „Die Musiker des Staatsstreichorchesters“. Am Montagabend war beim Tagesspiegel eine Mail eingegangen, in der „Staatsstreichorchester“ einen Freispruch für M. fordert und mit Anschlägen wie in „Kassel, Halle, Hanau“ drohte.
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Die Drohung am Dienstag war offenbar die Fortsetzung. Am Nachmittag folgte eine weitere Mail, wieder wird ein Freispruch für M. verlangt. Berlins Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) verurteilte die Bombendrohung gegen das Gericht. Die Justiz werde sich "von Drohungen rechter Hater nicht einschüchtern lassen", sagte der Senator.
André M. wirkt äußerlich wie ein Computer-Nerd
Der Angeklagte selbst wirkte beim Prozessauftakt ruhig. André M., 32 Jahre alt, entspricht allerdings äußerlich nicht dem Klischeebild des Naziberserkers. Ein schmaler Mann mit blassem Gesicht, die blonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden, am Oberkörper ein schlabbriges schwarzes T-Shirt. Eher der Typ Computer-Nerd.
Und doch ist André M. mutmaßlich der Fanatiker, der mit Bombendrohungen bundesweit Polizeieinsätze auslöste, der die Evakuierung von Rathäusern, Gerichten und Bahnhöfen provozierte, der in obszönen Mails die Ermordung der Schlagersängerin Helene Fischer ankündigte und Politiker mit Hassbotschaften belästigte. Der als „NationalSozialistischeOffensive“, die drei Worte stets zusammengepresst, Angst verbreitete.
Treffen die Vorwürfe der Generalstaatsanwaltschaft zu, ist der mehrfach vorbestrafte und womöglich psychisch gestörte Mann, den die Polizei im April 2019 in Halstenbek bei Hamburg festnahm, eine Symbolfigur des rechtsextremen Hasses, wie er durch das Internet tobt.
Dateien zur Herstellung von Sprengstoff besorgt
Der Angeschuldigte habe die „Androhung von Gewalthandlungen gegen staatliche Einrichtungen, Repräsentanten des Kapitalismus und Unterstützer der staatlichen Ordnung“ geplant, trug Oberstaatsanwältin Eva-Maria Tombrink nach der einstündigen Unterbrechung aus der Anklage vor.
Sein Ziel sei „neben dem Ausleben seines Menschenhasses und der öffentlichkeitswirksamen Verbreitung seiner Fantasien von der Vernichtung des kapitalistischen Systems zugunsten einer nationalen sozialistischen Ordnung“ die Befriedigung seines Bedürfnisses nach Aufmerksamkeit gewesen.
André M., so sieht es die Generalstaatsanwaltschaft, habe Reaktionen auf seine Drohungen erzwingen wollen. Und er wollte offenbar mehr als nur drohen. „Nach der Verunsicherung der Verantwortlichen und der Bevölkerung durch die Ankündigung dieser Anschläge beabsichtigte er seine Androhungen in die Tat umzusetzen und dabei zahlreiche unbeteiligte zufällige Opfer zu töten oder schwer zu verletzen“, sagte Tombrink.
André M. soll sich aus dem Internet zahlreiche Dateien zur Herstellung von Sprengstoff und zum Bau von Waffen besorgt haben.
In Berlin Drohungen gegen KaDeWe und Hotel Adlon
Die Serie der Drohungen hatte die Sicherheitsbehörden monatelang in Atem gehalten. Von Flensburg bis München gingen die rechtsextremen Hassmails ein, kein Bundesland blieb verschont. In Berlin richteten sich Drohungen gegen das Landgericht, das Finanzamt Neukölln, das KaDeWe, das Hotel Adlon und ein Schlagerfestival im Velodrom.
In Lübeck räumte die Polizei den Hauptbahnhof, in Potsdam, Magdeburg, Köln und weiteren Städten wurden Gerichte evakuiert. Die Serie begann im Dezember 2018 und schwoll rasch an. Im Januar 2019 beschlossen die Generalstaatsanwaltschaften, dass die Berliner Kollegen die Ermittlungen in einem Sammelverfahren zusammenführen.
Ausschlaggebend war, dass Drohschreiben auch bei der damaligen Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) und bei Bundestagsabgeordneten von Linkspartei, Grünen und FDP eingegangen waren. Eine der Betroffenen, die Linken-Abgeordnete Martina Renner, tritt im Verfahren gegen M. als Nebenklägerin auf und war am Dienstag im Saal.
Anklage mit 107 Fällen
Oberstaatsanwältin Tombrink hat aus den Ermittlungen eine Anklage zu 107 Fällen destilliert. In fast allen geht es um die wüsten Drohungen, die André M. bis zu seiner Festnahme im April 2019 in Mails verbreitet haben soll. In einer fanatischen Sprache, oft ungelenk und mit Fehlern, Geschrei wird Geschreibe.
„Ihr werdet nur noch in Fetzen darliegen, und wir hoffen das ihr übelebt und für euer restlichen Leben traumatisiert seid. Und wir hoffen das bei euren Familien viele Tränen fließen werden“, zitierte Tombrink aus einer Mail an mehrere Stadtverwaltungen vom 26. März 2019.
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Die Drohung mit angeblich deponierten Sprengsätzen wird aus Sicht des Täters ein Erfolg gewesen sein. Die Rathäuser in Augsburg, Kaiserslautern, Göttingen, Neunkirchen und Rendsburg wurden evakuiert, die Polizei suchte mit Sprengstoffspürhunden die Gebäude ab. Gefunden wurde nichts, es war alles ein Bluff, wie bei den anderen Drohungen auch.
Manischer Hass gegen Helene Fischer
Der manische Hass richtete sich auch gegen Helene Fischer. Sie hatte im September 2018 bei einem Konzert in Berlin ihre Fans aufgefordert, gemeinsam mit ihr die Stimme "gegen Gewalt, gegen Fremdenfeindlichkeit" zu erheben. In den Mails, die André M. an Medien, Politiker und ein Musikunternehmen schickte, eskaliert der Hass zu sadistischen Fantasien. Was Tombrink vorliest, klingt krankhaft.
Ist André M. psychisch gestört?
Die Richter werden sich mit der Frage beschäftigen müssen, in welchem Maße André M. nicht nur rechtsextrem radikalisiert, sondern auch psychisch gestört sein könnte. Das Landgericht Itzehoe hatte M. 2008 wegen einer Serie schwerer Delikte zu einer Jugendstrafe verurteilt und die Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet.
Die Richter sahen ihn in einer "Scheinwelt menschenverachtender Rache-, Gewalt- und Machtfantasien". Fünf Jahre verbrachte M. im Maßregelvollzug. Nachdem er wieder frei war, folgten weitere Straftaten. Als im Dezember 2018 die Bombendrohungen begannen, lag die letzte Haft keine drei Monate zurück.
Die Beweisaufnahme wird wegen der vielen Taten aufwändig. Das Gericht hat Termine bis September festgesetzt.
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