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Der Angeklagte Carsten S. im Mai 2014 im Oberlandesgericht in München.
© dpa
Update

172. Tag im NSU-Prozess: Das Taschenlampen-Attentat vor Gericht

Beim letzten Verhandlungstag in diesem Jahr beschäftigt sich das Gericht erstmals mit einem Anschlag, der nicht in der Anklage der Bundesanwaltschaft steht.

Das Opfer hat noch Glück im Unglück. Als die präparierte Taschenlampe in der Hand des jungen Türken explodiert, fliegen weniger Splitter als von den Tätern geplant. Serkan Y. erleidet im Gesicht, am Oberkörper und an den Armen Schnittwunden, doch sie sind nicht lebensbedrohlich. Wäre die in der Stablampe steckende, von einem eigens angesägten Wasserrohr ummantelte Bombe in viele Teile zerborsten, „hätten schwerwiegende Verletzungen bis zum Tod die Folge sein können“, sagt der Polizist am Mittwoch im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München.

Der Beamte hat zu dem mutmaßlich ersten Sprengstoffanschlag der Terrorzelle in Nürnberg ermittelt. Die Tat vom 23. Juni 1999 wäre vermutlich nie aufgeklärt worden, hätte der Angeklagte Carsten S. sie nicht in seinem Geständnis im Prozess erwähnt.

„Ein politischer Hintergrund ist nicht erkennbar“

Carsten S. hatte zu Beginn der Hauptverhandlung im Juni 2013 unter Tränen berichtet, die späteren NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten ihm bei einem konspirativen Treffen „spektakulär“ erzählt, dass sie in Nürnberg „in einem Laden eine Taschenlampe hingestellt haben“. Bei dem Laden handelte es sich um die Gaststätte „Sonnenschein“, die ein Türke betrieb. Das Opfer war sein Angestellter, der bei der Reinigung des Toilettenraumes die Taschenlampe sah, sie anknipste und damit die Zündung auslöste.

So wird nun erstmals im NSU-Prozess ein Zeuge zu einem Anschlag gehört, der nicht in der Anklage der Bundesanwaltschaft steht. Dennoch gibt es auch im Fall Nürnberg wieder die fast schon typischen Merkwürdigkeiten bei den Ermittlungen zu Verbrechen der Terrorzelle. Der Polizist sagt zwar, der Staatsschutz habe geprüft, ob es ein ausländerfeindliches Motiv geben könnte. Hinweise hätten sich keine gefunden. Allerdings hieß es schon in der ersten internen Polizeimeldung, aus der eine Nebenklage-Anwältin zitiert, „ein politischer Hintergrund ist nicht erkennbar“.

Opfer zunächst tatverdächtig

Stattdessen geriet das Opfer in den Verdacht, selbst in die Tat verwickelt zu sein. So war es auch bei den neun Morden des NSU an türkisch- und griechischstämmigen Migranten. Jahrelang ging die Polizei der These nach, die Erschossenen und ihre Familien seien wegen dunkler Machenschaften ins Visier von Killern geraten. Im Fall Nürnberg scheint allerdings der türkische Pächter des Lokals mitschuldig am Verdacht gegen das Opfer gewesen zu sein. Der Betreiber habe damals angegeben, der Geschädigte stecke im kleinkriminellen Milieu und habe mit Rauschgift zu tun. Angekreidet wurde Serkan Y. auch, dass er kurz vor der Explosion wegen einer Trunkenheitsfahrt seinen Führerschein verloren hatte. Doch Indizien für eine Verbindung des Opfers zur Tat fanden sich nicht.

Seltsam bleibt auch, dass der Anschlag erst im Juni 2013 durch das Geständnis von Carsten S. bekannt wurde. Nach dem Ende des NSU im November 2011 hatte die Polizei bundesweit ungeklärte Anschläge auf eine mögliche Täterschaft der Terrorzelle untersucht – aber offenbar nicht das Attentat mit der Taschenlampe. Obwohl Mundlos und Böhnhardt in Nürnberg von 2000 bis 2005 drei türkische Kleinunternehmer getötet hatten, soviel wie in keiner anderen Stadt.

Es mache ihn unruhig, sagt der Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler am Mittwoch im Prozess, dass ohne die Aussage von Carsten S. „wir keine Ahnung von einer weiteren Tat des NSU hätten“. Und dass das Opfer selbst verdächtigt wurde, sei „geradezu haarsträubend“.

Zschäpes Verteidiger Wolfgang Stahl betont allerdings noch ein anderes Detail der Aussage von Carsten S. Es  müsse auch angemerkt werden, dass S. sich erinnerte, Mundlos und Böhnhardt hätten bei dem Treffen mit ihm nicht gewollt, dass die hinzukommende Zschäpe von der Taschenlampe erfährt. Aus Sicht der Verteidiger der Hauptangeklagten verstärkt dieses Detail die Zweifel am Vorwurf der Bundesanwaltschaft, Zschäpe sei bei allen Verbrechen des NSU die Mittäterin gewesen.

Der 172. Verhandlungstag ist der letzte in diesem Jahr. Im Januar 2015 will der 6. Strafsenat sich mit dem Nagelbombenanschlag des NSU in der Kölner Keupstraße befassen. Bei der Explosion am 9. Juni 2004 wurden mehr als 20 Menschen, zumeist türkischer Herkunft, verletzt. Auch damals gingen die Behörden rasch von der Annahme aus, die Tat habe einen rein kriminellen Hintergrund und sei nicht politisch motiviert.

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