Nach den NSU-Ermittlungen: Innenminister prüft Todesfälle auf rechten Hintergrund
Neun getötete Menschen sind in Brandenburg offiziell als Opfer politischer Gewalt anerkannt, das könnte sich jetzt ändern. Denn die Zahl liegt weitaus höher. Mehrere Verdachtsfälle werden nun neu aufgerollt.
Brandenburgs Innenminister Dietmar Woidke (SPD) will alle seit 1990 begangenen Mordfälle mit rechtsextremen Hintergrund, die offiziell nicht als rechte Gewalttat in der Polizeistatistik registriert sind, aber bei denen ein rechtsextremer Hintergrund vermutet wird, neu aufrollen. Das sagte Woidke dem Tagesspiegel. Zuvor hatte das landesweite Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit von der Landesregierung die Überprüfung der von Rechtsextremisten begangenen Mordtaten und eine Korrektur der Polizeistatistik gefordert.
In Brandenburg weist die Polizeistatistik neun Todesopfer rechter Gewalt aus. Nach gemeinsamen Recherchen des Vereins Opferperspektive, des Tagesspiegels und anderer Zeitungen sind es aber 27. Dem will Woidke nun Rechnung tragen: „Wenn Tötungsverbrechen in unserem Land einen rechtsextremistischen Hintergrund hatten, muss das die Öffentlichkeit in jedem einzelnen Fall wissen. Das sind wir vor allem den Opfern und ihren Angehörigen schuldig.“ Deutschlandweit verzeichnen die Behörden seit 1990 insgesamt 63 Todesopfer rechter Gewalt, andere inoffizielle Listen gehen von 148 bis 169 Todesopfern aus.
„Wenn Tötungsverbrechen in unserem Land einen rechtsextremistischen Hintergrund hatten, muss das die Öffentlichkeit in jedem einzelnen Fall wissen. Das sind wir vor allem den Opfern und ihren Angehörigen schuldig“, sagte Woidke. Das mit der Überprüfung beauftragte Polizeipräsidium habe die Akten aller 27 Fälle von den Staatsanwaltschaften angefordert und werte diese derzeit umfassend aus. Ein abschließendes Ergebnis stehe noch aus. Das Aktionsbündnis hatte allerdings eine Überprüfung der Akten durch Polizei als nicht ausreichend bezeichnet, sondern eine Expertenkommission gefordert. Woidke erklärte aber: „Die bundesweit bekannt gewordene Liste von Gewaltopfern muss – auch im Zusammenhang mit den NSU-Ermittlungen – nach heutigen Kriterien neu geprüft werden. Dazu bekenne ich mich ganz klar.“
Bund und Länder hatten im Jahr 2001 die Kriterien für die Erfassung rechtsextremistischer Taten mit neuen Richtlinien geschärft. Erst seit 2001 werden rechtsextreme Taten als politisch motivierte Kriminalität eingestuft, wenn Menschen aufgrund ihrer politischen Haltung, ihres Aussehens oder ihrer gesellschaftlichen Stellung attackiert wurden und die Täter als rechtsextremistisch einzustufen sind. „Das war richtig so“, sagte Woidke. „Ich schließe deshalb ausdrücklich auch nicht aus, dass wir nach den jetzigen Untersuchungen in Brandenburg Fälle hinsichtlich ihrer Einordnung neu zu bewerten haben. Wenn dies der Fall ist, werden wir das tun.“
Bislang haben nur Sachsen auf Druck der dortigen Linken und Sachsen-Anhalt auf eigene Initiative nach der Mordserie des NSU-Trios fragliche Altfälle korrigiert. Dabei wurden in Sachsen zwei und in Sachsen-Anhalt drei Fälle im Nachhinein als rechtsextremistische Morde eingestuft. In Berlin hat eine Prüfung der Altfälle nicht zu einer Korrektur geführt.
Die meisten Opfer, die von Rechtsextremisten zu Tode geprügelt, gefoltert und schwer misshandelt wurden, gab es in Brandenburg in den 1990er Jahren. Der Verein Opferperspektive spricht von erheblichen Mängeln und schweren Versäumnissen bei den Ermittlungen von Polizei und Gerichten zum Tatmotiv – meist auch, um die eigene Region nicht in Verruf zu bringen.
In den vergangenen Jahren hatte sich Brandenburg aber deutschlandweit einen Namen beim Kampf gegen Rechtsextremismus gemacht – vor allem durch die Verbotspraxis gegen rechte Gruppen, das harte Vorgehen der Polizei, aber wegen zahlreicher zivilgesellschaftlicher Gruppen gegen Rechts. Erst Mitte Oktober verschärfen die Sicherheitsbehörden ihren Kurs gegen die rechte Szene im südlichen Berliner Umland. Grund sind mehrere Attacken in Brandenburg auf Wohnungen von Neonazi-Gegnern, linke Jugendklubs, ein Flüchtlingsheim und geschändete Mahnmale – wie sie sich auch in Berlin zugetragen haben. Polizeipräsident Arne Feuring schaltete das Landeskriminalamt (LKA) ein. Hintergrund ist, dass Rechtsextremisten in Brandenburg nach dem Verbot mehrerer Kameradschaften nun unter dem Dach eines Netzwerks um die Internetseite „Nationaler Widerstand Berlin“ aktiv sind.