Münchner Sicherheitskonferenz: Das strategische Erwachen nutzen
Das Klima für konkrete Projekte war schon lange nicht mehr so günstig. Der politische Wille von Deutschland und Frankreich ist ausschlaggebend. Aber die nächsten Monate sind entscheidend.
Nach einem Jahrzehnt der Apathie in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik scheinen die europäischen Verantwortlichen von einer gewissen Euphorie erfasst. Die Verteidigungsausgaben der Mitgliedstaaten steigen, die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ) sowie ein Europäischer Verteidigungsfonds wurden ins Leben gerufen – seit einigen Monaten ist in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten eindeutig eine neue Dynamik zu beobachten.
Diese neue Entschlossenheit ist eine willkommene Antwort auf wachsende Herausforderungen im Hinblick auf die Sicherheit des Kontinents. Dschihadistische Terroranschläge im Herzen unserer Gesellschaften, der Ukraine-Konflikt, der Krieg in Syrien, Spannungen am Horn von Afrika, in der Sahelzone, Libyen oder auch Zentralafrika – an Krisenherden mangelt es nicht. Hinzu kommen diffusere, doch nicht weniger gefährliche Bedrohungen wie Cyberterrorismus, eine steigende Zahl an Massenvernichtungswaffen, der Rüstungswettlauf zwischen einigen Ländern und die immer hemmungslosere Anwendung von Gewalt.
Selten sah sich Europa einer derart verfahrenen und unsicheren Gesamtlage gegenüber. Das „strategische Erwachen“ der europäischen Nationen ist deshalb nur folgerichtig. Sie hatten sich seit Ende des Kalten Krieges an allzu bequeme, transatlantische Beziehungen und an zwar kostspielige und gefährliche, aber weit entfernte militärische Interventionen gewöhnt. Heute ist die Gefahr real und unsere Verbündeten sind – vielleicht – ein bisschen weniger unsere Verbündeten. In einer dauerhaft unsicher gewordenen Welt ist es nur legitim, wenn Europa seine Sicherheit zukünftig auch selbst in die Hand nehmen und sogar strategische Autonomie erlangen möchte.
Keine Konkurrenz mit der Nato
Diese europäische Perspektive steht in keinem Widerspruch zu einem Engagement in der Nato. Die wesentliche Rolle des Bündnisses in der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist im EU-Vertrag festgehalten, und niemand wird ernsthaft behaupten, die noch in den Anfängen steckende europäische Sicherheitspolitik stehe in Konkurrenz mit der Nato. Wer hier von Duplizierung oder Wettbewerb spricht, tut es wider besseren Wissens und hegt womöglich ideologische Hintergedanken.
Angesichts des Ausmaßes der Bedrohung und der Größe der Herausforderung ist Pragmatismus angesagt: Jede Verteidigungsmaßnahme, in die ein europäisches Land einwilligt, ist ein positiver Beitrag zur Sicherheit des Kontinents. Die ehrgeizigen europäischen Bestrebungen dürfen nicht wieder zu wenig fruchtbaren, fast schon religiös anmutenden Streitigkeiten über das Verhältnis der EU zur Nato führen, auch wenn das Zusammenspiel ohne Zweifel noch konkreter, wirksamer und verständlicher werden muss. Doch in einer so prekären Sicherheitslage ist Platz für beide Organisationen. Was zählt, ist die dauerhafte Verpflichtung der Mitgliedstaaten.
Verteidigung bedeutet mehr als Wirtschaft und Zahlen
Die jüngsten europäischen Initiativen gehen in die richtige Richtung. Doch bei allem Enthusiasmus angesichts neuer Perspektiven sollte man die komplexe Realität nicht aus den Augen verlieren. Die konkrete Umsetzung der europäischen Ambitionen braucht Zeit und verlangt konstanten politischen Willen, wenn es um die Kontinuität der – nationalen und europäischen – Verteidigungsausgaben geht oder auch um die Zuständigkeiten; die gemeinsamen Projekte müssen strukturell effizient sein und einen echten Mehrwert für unsere Armeen und Industrien bringen. Zurzeit zielen die europäischen Projekte in erster Linie auf die industrielle Entwicklung und die Entwicklung von Kapazitäten. Das ist ein wichtiger Schritt, und niemand wird die Notwendigkeit der Rationalisierung bestreiten. Doch die geplanten Programme im Rahmen des Verteidigungsfonds oder der SSZ dürfen nicht nur einer ökonomischen Logik der Wettbewerbsfähigkeit und Stabilisierung der Rüstungsindustrie folgen.
Will die europäische Sicherheitspolitik glaubhaft sein, darf die militärische Einsatzbereitschaft nicht vernachlässigt werden. Es geht nicht darum, systematisches, hemmungsloses militärisches Eingreifen zu befürworten. Doch man muss anerkennen, dass Verteidigung nicht nur Wirtschaft und Zahlen bedeutet. Wir haben es mit Streitkräften zu tun, mit Gemeinschaften von Menschen, die sich ganz und gar ihrer Aufgabe verschrieben haben und bereit sind, dafür ihr Leben zu opfern.
Die Qualität, die Leistungsfähigkeit und Verlässlichkeit der Ausrüstung, die wir zukünftig in Kooperation entwickeln wollen, sollen in erster Linie unsere Streitkräfte schützen und den Erfolg ihrer Einsätze gewährleisten. Es waren übrigens gemeinsame Operationen – auch unter deutscher und französischer Beteiligung – die Anfang der 2000er Jahre die erste Version einer europäischen Sicherheitspolitik konkret werden ließen. Wer erinnert sich noch an die „Operation Artemis“ in der Demokratischen Republik Kongo im Jahr 2003? Vor 15 Jahren waren Frankreich und Deutschland in nur wenigen Wochen einsatzbereit für eine Intervention in Afrika. Das relativiert die seither erzielten Fortschritte und aktuellen Ziele.
Wir brauchen eine einheitliche Strategie
Die europäischen Pläne müssen jetzt in konkrete Projekte münden. Der Teufel steckt am Ende sicherlich im Detail, aber das Klima war schon lange nicht mehr so günstig wie jetzt. Der politische Wille, namentlich der von Frankreich und Deutschland, wird ausschlaggebend sein, wenn auch nicht als einziger. Eine der größten Herausforderungen besteht darin, die Offenheit den Ländern gegenüber abzustimmen, die aktiv an der europäischen Verteidigungspolitik teilnehmen wollen, und eine selektive Flexibilität an den Tag zu legen, die es erlaubt, die entscheidenden qualitativen Fortschritte zu erzielen.
Eine andere Aufgabe wird es sein, die noch recht heterogenen strategischen Vorstellungen zu vereinheitlichen. Die Ereignisse der vergangenen Jahre haben bereits unmerklich dazu beigetragen. Doch es steht zu viel auf dem Spiel, um den Dingen ihren Lauf zu lassen. Eine ehrgeizige Verteidigungspolitik hinsichtlich der erheblichen Sicherheitsanforderungen im Süden stellt keinen Widerspruch dar zu einer uneingeschränkten, kollektiven Solidarität angesichts der Bedrohungen, denen der Ostteil des Kontinents ausgesetzt ist. Das schwierige Austarieren dieser zwei Prioritäten war in den letzten Jahren oft lähmend. Dabei zeigen einige Beispiele, dass es keinen Widerspruch gibt, und die Europäer dank unterschiedlicher Organisationen (Nato, EU und sogar UN) über ausreichend Ressourcen verfügen, um beiden Herausforderungen zu begegnen.
Es gilt, die aktuelle Dynamik zu nutzen
Bei der von Frankreich geführten „Operation Barkhane“ in der Sahelzone sind 4000 Soldaten im Einsatz; zugleich war Frankreich an der Nato-Initiative „Enhanced Forward Presence“ in Estland beteiligt und ist es heute auch in Litauen. Deutschlands Interesse an Afrika manifestiert sich sowohl in einer neuen militärischen Präsenz (Bundeswehreinsatz in Mali, Unterstützung der G5-Sahel-Staaten), als auch in einem erheblichen Beitrag zur Entwicklung dieser Schlüsselregion. Dass nicht nur die großen Staaten in der Lage sind, diese Politik mitzuprägen, zeigt das Beispiel Estland: ein Musterland, wenn es um die Beteiligung an den europäischen Militäreinsätzen an der Südflanke Europas geht. Zugleich ist Estland – geographisch und historisch bedingt – der Archetypus eines auf den Osten fokussierten Landes.
Die Beispiele zeigen, dass Bewegung in die europäische Sicherheitspolitik gekommen ist. Es geht nun darum, das strategische Erwachen langfristig in konkrete Projekte umzusetzen, ohne sich naiven Illusionen hinzugeben, aber auch ohne die Schwierigkeiten zu übertreiben – oder gar neue zu erfinden! Der europäische Kontext ist zumindest für die kommenden Monate günstig für neue Ideen und politische Entschlossenheit. Leider sind solche Phasen in der Regel schnell wieder vorbei. Es ist also wichtig, die aktuelle Dynamik zu nutzen.
Der Autor ist konservativer französischer Europaabgeordneter. Der Verteidigungsexperte berät die Regierung von Emmanuel Macron.
Arnaud Danjean
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