Abgrenzung oder Zusammenarbeit?: Das Rätsel um die AfD-Mehrheit
Die CDU will es nicht gewesen sein, die den AfD-Mann in Gera zum Stadtratsvorsitzenden gewählt hat. Ihre Kritiker sagen: Längst arbeiten Christdemokraten mit der AfD zusammen.
Wie ernst meint es die CDU wirklich mit der Abgrenzung von der AfD? Werden Beschlüsse der Bundespartei gegen eine Zusammenarbeit auch in Kommunen der neuen Länder durchgesetzt? Seit der Wahl eines AfD-Politikers zum Stadratsvorsitzenden in Gera stehen diese Fragen wieder im Raum. Am Donnerstag hatte der Stadtrat der drittgrößten Kommune in Thüringen den AfD-Politiker Reinhard Etzrodt zum Vorsitzenden gewählt.
SPD und Linke bezichtigen seither die CDU, Etzrodt habe Stimmen aus deren Reihen bekommen. Die Christdemokraten bestreiten das. Das Internationale Auschwitz-Komitee nannte den Vorgang „würdelos und geschichtvergessen“.
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Das Verhältnis von CDU und FDP zur AfD steht unter besonderer Beobachtung, seit im Februar der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt worden war. Nach massiven Protesten aus der Bundespolitik, an denen sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beteiligte, trat er wenige Tage später zurück.
Wer hat in geheimer Wahl für den AfD-Mann gestimmt?
Im Parlament der Stadt ist die AfD mit zwölf Abgeordneten stärkste Fraktion. Etzrodt erhielt am Donnerstagabend in geheimer Wahl 23 von 40 Stimmen. Neben der Linken (acht Sitze) haben unter anderem die CDU (sechs), die Bürgerschaft Gera (drei), Für Gera (drei), die Grünen (drei) und die SPD (drei) mehr als einen Sitz im Stadtrat. Vier weitere Parteien haben jeweils eine Stimme.
Linke, SPD und Grüne schließen aus, dass ihre Abgeordneten für den AfD-Mann gestimmt haben. Rechnerisch habe Etzrodt nur mit CDU-Stimmen gewinnen können, argumentieren sie. Zudem arbeite die CDU in Gera längst mit der AfD zusammen, da sie mit ihr und anderen Fraktionen gemeinsame Anträge einbringe. Dies habe sie auch am Wahlabend getan, erklärten Linken-Kreisvorsitzender Andreas Schubert und seine SPD-Kollegin Elisabeth Kaiser auf Anfrage des Tagesspiegels. CDU-Bezirkschef Christian Klein war für eine Anfrage nicht zu erreichen.
Die Landesvorsitzende der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, forderte den neu gewählten CDU-Landeschef zum Eingreifen auf. Die Thüringer CDU und Christian Hirte müssten jetzt erklären, warum sie einen AfD-Mann in Gera zum Vorsitzenden des Stadtrats gemacht hätten: „Wie kann eine demokratische Partei, die sie sein wollen, immer wieder Handlanger einer extrem rechten Partei sein?“
Auch die SPD zeigte sich schockiert. „Es ist unfassbar! Wir fragen uns, hat die CDU-Thüringen nichts aus dem 5. Februar gelernt?“, schrieb die Partei auf Twitter. Am 5. Februar war Kemmerich mit AfD-Stimmen gewählt worden.
„Nicht zum ersten Mal zeigt sich, dass die CDU in einigen Teilen Deutschlands nach rechts offen ist“, sagte der Parlamentsgeschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, dem Tagesspiegel. Schneider kommt aus Thüringen. Die Annäherung nehme offenbar neue Formen an, da auch gemeinsame Anträge von CDU und AfD kein Tabu mehr seien. Die CDU in Thüringen müsse nun „nicht nur klare Worte finden, sondern die Zusammenarbeit mit der AfD beenden.“
CDU-Landeschef Hirte wies die Vorwürfe zurück: „Die CDU hat sich in der Fraktion klar darauf verständigt, den AfD-Kandidaten nicht zu wählen. Genau so ist es auch erfolgt“, erklärte er. Hirtes Haltung zur AfD wurde bundesweit beachtet, als ihn seine mangelnde Distanz zu der Partei seinen Regierungsposten kostete. Nach Kemmerichs Wahl hatte er diesem via Twitter gratuliert und einen „Kandidaten der Mitte“ genannt. Nach massiver Kritik sorgte Merkel dafür, dass der damalige Staatssekretär im Wirtschaftsministerium seinen Job verlor.
Der von Hirte verwendete Begriff „Kandidat der Mitte“ enspricht in etwa der Selbstbeschreibung der AfD, die ein „bürgerliches Lager“ mit CDU und FDP anstrebt. Gera habe „deutlich gemacht, daß es keine linken Mehrheiten gibt, wenn alle Bürgerlichen zusammenstehen“, twitterte nun der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner, der Stadtrat in Gera ist. Die Wahl „dürfte auch damit deutschlandweit einzigartig und richtungsweisend sein“.
Der Wahl war ein langes Tauziehen um das Verfahren vorausgegangen. Das Landesverwaltungsamt hatte überraschend gefordert, die Hauptsatzung zu ändern, nach der die stärkste Fraktion das Vorschlagsrecht für den Vorsitz hat. Nach Kritik nicht nur aus den Reihen der AfD rückte das Amt von der Forderung ab.
Die Führung der Bundes-CDU hat eine Zusammenarbeit mit der AfD mehrfach kategorisch ausgeschlossen. Vor allem in den neuen Ländern aber befürworten CDU-Vertreter eine solche Kooperation. Vor einem Jahr hatten CDU-Spitzengremien der AfD eine Mitverantwortung für die Ermordung des Kasseler Christdemokraten Walter Lübcke bescheinigt.
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Der Vorgang in Gera fand im Vergleich zur Wahl Kemmerichs nun deutlich weniger bundespolitische Resonanz - womöglich nicht nur, weil ein Stadtrat weniger bedeutend ist als eine Staatskanzlei. Eine Rolle dürfte auch spielen, dass die AfD versucht, aus der Opferrolle politisches Kapital zu schlagen. Offenbar in Anspielung auf die Aufforderung Merkels vom Februar, Kemmerichs Wahl rückgängig zu machen, stellte AfD-Mann Brandner am Donnerstagabend via Twitter die Frage, ob Merkel schon im Bett sei: „Oder warum kommt nichts zu #Gera?“
Der Soziologe Klaus Dörre, der an der Universität Jena auch zu Rechtspopulismus forscht, sagte der dpa, Gera sei "kein Einzelfall“. Es gebe inzwischen zahlreiche Beispiele von Zusammenarbeit zwischen AfD und anderen Parteien - vor allem der CDU - auf kommunaler Ebene. Nicht nur in Thüringen, auch in anderen Bundesländern. „Damit wird in Kauf genommen, dass es auch auf anderen Ebenen hoffähig wird, mit der AfD zu kooperieren.“ Letztlich sei das die Strategie der AfD: Von den Dörfern, vom Land aus die Zentren zu erobern, warnte Dörre.