Netzpolitik-Affäre: Das Kanzleramt, das freie Wort und die Journalisten
Der Generalbundesanwalt ermittelt wegen Landesverrats, die Regierung kritisiert ihn dafür. Dabei steht fest, dass auch Bundeskanzleramt und Innenministerium Fälle von Geheimschutzverstößen untersuchen ließen, die auf Berichten von Journalisten beruhen.
Um welche Fälle geht es?
Bekannt sind bisher vier Fälle aus dem Jahr 2014. Im Innenministerium wurden zwei Verstöße festgestellt. Im Kanzleramt kam es zu zwei „Prüfvorgängen“. Mitgeteilt wird nur, dass jeweils Medienberichte der Anlass für die Untersuchungen waren. Die weiteren Inhalte und Ergebnisse sind nicht bekannt. Die Regierung beruft sich darauf, sie würde durch die Auskünfte die bestehenden Geheimschutzverstöße noch weiter vertiefen.
Was heißt „geheim“?
Die Regierungsstellen schützen ihre vertraulichen Dokumente als „Verschlusssachen“ (VS). Den Verwaltungsvorschriften des dafür zuständigen Innenministeriums zufolge sind dies „im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse unabhängig von ihrer Darstellungsform“. Fotos, Kopien, Dateien oder sogar Geräte oder sonstige Gegenstände können ebenso zur VS erklärt werden wie Aufzeichnungen des gesprochenen Wortes.
Welche Stufen der Geheimhaltung gibt es?
VS werden in fünf so genannte Geheimhaltungsgrade unterteilt. „Nur für den Dienstgebrauch“ ist die niedrigste, sie gilt, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik nachteilig sein kann. Derart wird vieles eingestuft, sogar Protokolle von parlamentarischen Ausschusssitzungen. „Vertraulich“ sind Dokumente, wenn die Weitergabe „schädlich“ sein kann. „Geheim“ gilt, wenn „schwerer Schaden“ droht. „Streng geheim“, wenn der Inhalt in fremden Händen „den Bestand oder lebenswichtige Interessen“ Deutschlands gefährden können. Solche Unterlagen dürfen nicht einmal in einem Bankschließfach liegen.
Hat die Regierung gegen Journalisten ermittelt?
Nein, jedenfalls nicht direkt. Verschlusssachen verpflichten zunächst nur Behörden- und Regierungsmitarbeiter zur Vertraulichkeit. Es gilt ausdrücklich der Grundsatz: „Kenntnis nur, wenn nötig.“ Gibt es einen Verdacht auf Verstöße, etwa, wenn Material Journalisten zugespielt und veröffentlicht wird, klären die Geheimschutzbeauftragten der Behörden das Geschehen. Ihr Auftrag ist, „die erforderlichen Maßnahmen“ zu treffen, „um Schaden zu verhüten oder zu verringern und um Wiederholungen zu vermeiden“. Im Klartext: Es geht darum, den Verräter in den eigenen Reihen zu finden. Dabei dürfte die Person, die exklusiv über solche geschützten Dokumente berichtet, eine wichtige Rolle spielen. Zu welchen Behördenmitarbeitern hat der Journalist Kontakte? Auf welchem Weg könnte er an die Informationen gelangt sein?
Wie weit reichten die Untersuchungen der bekannten Fälle?
Dazu gibt es keine amtlichen Auskünfte. Allerdings waren die Unterlagen bei dem einen Prüfvorgang als „geheim“ eingestuft. Im anderen Fall geht es um eine Verschlusssache ausländischer Partner, vermutlich um Nato-Dokumente. Solche waren im vergangenen Jahr mehrfach in die Presse gelangt, Partnerländer beschwerten sich daraufhin bei der Bundesregierung. Ein Indiz dafür ist, dass sich das Kanzleramt bei seiner Verweigerung weiterer Auskünfte gerade darauf beruft: Die dem Prüfvorgang zugrunde liegenden Medienberichte berührten einen „sehr grundsätzlichen Bereich“ nationaler Sicherheitsinteressen. „Bereits Medienberichterstattung zu ,geheimen Nato-Dokumenten’ wird auch von Regierungen verbündeter Staaten als schwerwiegender Vertrauensbruch erachtet“, heißt es. Entsprechend gründlich dürften die Verantwortlichen nach undichten Stellen geforscht und dabei auch die Person der Journalisten ins Visier genommen haben.
Genügt diese Transparenz?
Nein, zumal das Kanzleramt die Auskünfte nicht freiwillig gab, sondern erst nach einer Eilklage des Tagesspiegels beim Berliner Verwaltungsgericht. Auch Auskünfte zu Geheimschutzverstößen beim Bundesnachrichtendienst (BND) stehen noch aus. Hier ist ein Eilverfahren vor dem dafür zuständigen Bundesverwaltungsgericht in Leipzig anhängig.
Was unternimmt das Kanzleramt noch, um Regierungsdokumente zu schützen?
Die amtliche Position lautet: Alles, was rechtlich möglich und der Sicherheit förderlich ist. 2014 war ein Jahr, in dem sich das Kanzleramt auf kritischen Journalismus eingeschossen hat. Seinen Chef Peter Altmaier (CDU) veranlassten die Enthüllungsberichte zu einer Art Drohbrief an den NSA-Untersuchungsausschuss. Denn dort mutmaßte Altmaier eine wichtige Quelle der Informationsweitergabe, jedenfalls soweit es Nachrichtendienste und die Snowden-Affäre betrifft.
„Im Ergebnis schaden unzulässige Weitergaben geheimhaltungsbedürftiger Unterlagen“, folgerte er und forderte die Parlamentarier auf, das Material für sich zu behalten, denn: „Das Staatswohl ist der Bundesregierung und dem Bundestag gleichermaßen anvertraut.“ Ausdrücklich zählte der Amtschef einzelne Medienveröffentlichungen auf, darunter auch eine von „Netzpolitik.org“, jenem Netzportal gegen das sich die aktuellen Ermittlungen wegen Landesverrats richten. Und: „Ich behalte mir vor, im Wiederholungsfalle Strafanzeige gegen Unbekannt zu erstatten.“
Hat das Kanzleramt Anzeige erstattet?
Bisher nicht, und aktuell heißt es, es sei auch nicht beabsichtigt. Es wäre aber wohl falsch, daraus einen generellen Verzicht auf dieses Mittel abzuleiten. Das Kanzleramt hatte damals dienstliche Erklärungen von Mitarbeitern eingeholt, die mit den in der Presse erwähnten Geheimdokumenten befasst waren. Wie sehr die Regierung das Thema genervt hat, zeigte sich auch in einer Erklärung Ende vergangenen Jahres, wonach der Umgang mit Verschlusssachen angesichts der vielen verräterischen Presseberichte „optimiert“ werden sollte.
Wären von einer Anzeige auch Journalisten bedroht?
Ja, wenn es um Landesverrat geht. Beim „einfachen“ Verrat von Dienstgeheimnissen gilt das bloße Veröffentlichen seit einer Gesetzesänderung nicht mehr als strafbare Beihilfe. Der Straftatbestand Landesverrat schützt dagegen die Interessen der Bundesrepublik vor der Gefährdung durch ausländische Mächte – Staatsgeheimnisse eben. Verkürzt gesagt: Journalisten, die über Dokumente berichten, die sich sonst nur Spione besorgen würden, stehen im Risiko.
Können sich Enthüllungsjournalisten nicht auf die Pressefreiheit berufen?
Prinzipiell ja. Aber die Pressefreiheit macht nicht immun gegen Strafverfolgung. So lange der Landesverrat im Strafgesetzbuch keine Sonderklausel bekommt, die entsprechende Vorwürfe gegen Journalisten ausschließt, sind Ermittlungen eine Frage des Einzelfalls. Zum einen kommt es darauf an, ob wirklich Staatsgeheimnisse betroffen sind – wie es jetzt auch im Fall Netzpolitik streitig ist. Zudem muss ein Täter allerdings noch die Absicht haben, die Bundesrepublik durch sein Handeln zu schädigen. Die meisten Enthüllungsjournalisten haben freilich die Absicht einen – echten oder auch nur vermeintlichen – Skandal zu enthüllen. Trotzdem kann es theoretisch zu einer Anklage kommen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genügt es, wenn die Absicht ein „Nebenziel“ des eigentlichen Handelns ist.