Scholz' Kritik an Walter-Borjans: „Das hat die Sozialdemokratische Partei nicht verdient“
Vizekanzler Olaf Scholz wirft seinem Konkurrenten Borjans vor, in der Kanzlerkandidatenfrage zu ängstlich zu sein. Die SPD solle mutig sein. Ein Interview.
Olaf Scholz ist Vizekanzler und Bundesfinanzminister. Seit 2001 gehört er dem SPD-Vorstand an, seit 2009 ist er Parteivize. Erst nach langem Zögern bewarb er sich gemeinsam mit Klara Geywitz um den SPD-Vorsitz. Zuvor hatte er monatelang erklärt, diese Aufgabe sei mit seinen Regierungsaufgaben nicht vereinbar. In der ersten Runde der Mitglieder-Abstimmung lag das Duo knapp vorn. Am 30. November wird das Siegerduo der Stichwahl verkündet.
Herr Minister, wie viele Männer-Gesangsvereine gibt es in Ihrer Heimatstadt Hamburg?
Ziemlich viele. Und die machen das gut.
Was hat Sie geritten bei dem Vorstoß, Vereinen, die keine Frauen aufnehmen, die Steuervorteile zu streichen?
Niemand will aus Männerchören gemischte Chöre machen. Niemand verlangt, dass in der Herrenmannschaft künftig auch Frauen mitkicken. Darum geht es nicht. Es geht um Vereine, die konsequent und bewusst keine Frauen zur Mitgliedschaft zulassen – ohne jeden sachlichen Grund. Es gibt dazu längst Gerichtsurteile, die wir bei der Reform des Gemeinnützigkeitsrechts berücksichtigen müssen. Ich kann Sie aber beruhigen: Es handelt sich eher um eine überschaubare Zahl an Vereinen.
Für einige hängt das Thema mit Ihrem Versuch zusammen, bei der Bewerbung um den SPD-Vorsitz mit Klara Geywitz auf die „Feminismus“-Karte zu setzen. Ist das ein taktischer Vorstoß?
Nein. Ich engagiere mich schon sehr lange für Gleichstellung. Als ich noch ein junger Sozialdemokrat war, habe ich mich dafür eingesetzt, bei den Jusos eine Frauenquote einzuführen. Das war damals hoch umstritten. Wir haben in unserer Gesellschaft immer noch Gleichstellungsaufgaben zu lösen, beispielsweise was gleichen Lohn für Frauen und Männer betrifft.
Und es geht auch darum, dass mehr Frauen in Führungspositionen gelangen. Nehmen Sie die Europäische Zentralbank: Gerade erst haben wir mit Isabel Schnabel eine erstklassige Volkswirtin als EZB-Direktorin nominiert. Wenn wir anstelle von Professorin Schnabel einen Mann nominiert hätten, wie die anderen Euro-Länder, dann würde Frau Lagarde im EZB-Direktorium keine andere Frau treffen. Das ist auch im 21. Jahrhundert die Wirklichkeit in Europa und vielerorts auch in Deutschland.
Auch bei der sogenannten „Tamponsteuer“ haben Sie sich quasi an die Spitze der Bewegung gestellt ...
Meine Herren, der Fachbegriff lautet „pink tax“.
Wir meinen es ernst. In der SPD-Fraktion gab es erst Vorbehalte, nun hat der Bundestag auf Ihren Vorschlag beschlossen, dass für Tampons und Binden der reduzierte Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent gelten wird.
Ich habe sehr früh gesagt, dass ich das befürworte, und dann haben wir verabredet, wie das hinhaut. Uns hat dabei im Übrigen eine ganz tolle Bewegung unterstützt, die sich in dieser Frage sehr eingesetzt hat. „Die Periode ist kein Luxus“, heißt ihr Slogan. Die Mehrwertsteuer, wie sie heute in Deutschland geregelt ist, folgt keinem wirklich nachvollziehbaren System.
Wann der Steuersatz höher oder niedriger ist, ist nicht zu verstehen. Ich weiß aber, dass viele daran gescheitert sind, das System neu zu ordnen. Deshalb habe ich den SPD-Abgeordneten signalisiert, wenn der Bundestag gezielt eine Regelung zur Abschaffung der „pink tax“ sucht, würde ich ihn unterstützen und eine entsprechende Formulierungshilfe für die Gesetzgebung zur Verfügung stellen.
Ihr Tätigkeitsfeld reicht weit über das Finanzministerium hinaus, sie mischen in vielen Feldern mit. 2016 haben Sie gesagt: Wenn die SPD einen Kandidaten aufstellt, den die Bürger als Kanzler wollen, wirkt sich das bei Wahlen aus. Schnell zehn Prozentpunkte obendrauf. Gilt der Satz noch?
Ja.
Und wer kann das schaffen?
Wir sind jetzt erst mal dabei, Vorsitzende zu wählen. Klara Geywitz und ich bewerben uns, weil wir glauben, dass wir die SPD stärker machen können. Nicht nur in Umfragen, sondern auch bei Wahlen.
Ihr Gegenkandidat Norbert Walter-Borjans empfiehlt, bei den aktuellen Umfragewerten auf einen Kanzlerkandidaten zu verzichten…
Wer das tut, macht die SPD klein. Und das hat die Sozialdemokratische Partei nicht verdient. Sie hat die Demokratie und den Sozialstaat erkämpft. Und die SPD wird auch in Zukunft gebraucht, im Kampf gegen rechte Populisten und gegen alle, die das Ressentiment schüren, aber auch im Kampf für ein einiges, souveränes und solidarisches Europa.
Nur wir können dafür sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger aus unterschiedlichen Milieus und Lebensverhältnissen zusammenhalten. Wir akzeptieren keine Rangordnung, die sich nach Herkunft, Einkommen, der Dauer der Ausbildung oder der Karriere richtet. Jeder, der im Lager arbeitet oder im Lebensmittelgeschäft, jede, die eine ordentliche Handwerksausbildung gemacht hat und arbeitet, hat den gleichen Respekt und die gleiche Anerkennung verdient wie ein Akademiker, eine Akademikerin.
Dafür zu sorgen, ist unsere Aufgabe in der Gesellschaft, und darum muss die SPD stark sein. Deshalb dürfen wir uns nicht klein machen, sondern müssen mit geradem Rücken auf den Platz gehen.
Sie vertreten die Ziele und die Bedeutung Ihrer Partei mit Leidenschaft. Aber ist es nicht erschütternd, dass nur wenig mehr als 50 Prozent der Mitglieder an der ersten Wahlrunde teilgenommen haben?
Ich wünsche mir für den zweiten Wahlgang eine höhere Beteiligung. Vielleicht fällt es auch leichter, weil die Auswahl ja etwas überschaubarer geworden ist. Und alle wissen, um was es bis zum 29. November geht: Es geht wirklich um die Zukunft der SPD. Und es geht um die Zukunft unseres Landes, um die Frage, ob eine fortschrittliche, zukunftsoffene, weltoffene Partei, die zugleich für einen robusten Sozialstaat einsteht, in diesem Land eine Bedeutung behält.
Gemeinsam mit Klara Geywitz traue ich mir zu, die SPD in diesem Sinne zu führen - und bin sehr froh darüber, dass wir jetzt eine Spitze aus einem Mann und einer Frau bilden.
Esken und Walter-Borjans sagen, Sie könnten Vizekanzler bleiben, wenn sie gewinnen. Nehmen Sie das Angebot an?
Ich nehme das mal als Lob für meine Arbeit.
Haben Sie in den vergangenen Wochen, in denen Sie an der Basis der SPD für sich geworben haben, manchmal gedacht: Warum tue ich mir das an?
Nein, nie. Ich bin seit meinem 17. Lebensjahr Sozialdemokrat, und ich bin das nicht zufällig. Ich habe eine große Zuneigung zu meiner Partei. Ich bin da mit ganzem Herzen dabei. Deshalb kandidiere ich ja.
Den ersten Wahlgang haben Klara Geywitz und Sie nur mit hauchdünnem Vorsprung gewonnen. Warum hadert Ihre Partei eigentlich so mit Ihnen?
Wir haben vorn gelegen. Und ich hoffe, dass der zweite Wahlgang Ihre Frage eindeutig beantwortet und Sie sie dann nicht mehr stellen müssen.
Haben Sie nicht manchmal Angst, dass die SPD zu stark nach links rückt? Harald Christ hat deshalb sein Amt als Mittelstandsbeauftragter niedergelegt.
Nein. Lassen Sie uns über konkrete Politik reden. Wir haben die Aufgabe, den menschengemachten Klimawandel aufzuhalten. Das wird uns nur gelingen, wenn wir eine ökologische Industriepolitik, wenn wir eine ökologische Wirtschaftspolitik vorantreiben, die mehr ist als eine Sprechblase. Es geht darum, wie die Leitungsnetze in Deutschland ausgebaut werden.
Es geht darum, dass genügend Erzeugungskapazitäten mit Windkraftanlagen auf hoher See und an Land sowie Solarenergieanlagen entstehen. Es geht darum, dass unsere Energieversorgung sicher und bezahlbar ist und wir trotzdem bis 2050 CO2-neutral produzieren.
Wenn wir dafür sorgen, dass unsere Autos mit anderen Antrieben versehen sind, mit batterieelektrischen Antrieben, mit Hybridantrieben, mit Brennstoffzellen, dann sichern wir nicht nur unseren Wohlstand, sondern bieten auch gleichzeitig eine Lösung an, die ermöglicht, dass der Wohlstand z.B. in Afrika wachsen kann, ohne dass die Umwelt dort so leidet wie bei uns. Ich bin überzeugt, Deutschland kann das.
Die Ansiedlung von Tesla in Brandenburg empfinden manche als Kampfansage an die deutsche Autoindustrie. Verliert sie den Anschluss?
Die Sorge habe ich nicht. Es wird in Europa und in Deutschland mehrere große Batterieproduktionen geben müssen, um die künftige Nachfrage zu befriedigen. Wenn Tesla jetzt investiert, ist das eine gute Nachricht. Die deutsche Autoindustrie unterstützt durch ihre Bestellungen den Bau einer Batteriefabrik in Thüringen. Volkswagen treibt solche Projekte voran, andere Hersteller auch, auch in Kooperation mit Frankreich. Die deutschen Konzerne werden milliardenschwere Investitionen in neue Fahrzeugtechnologien tätigen. Ich bin sicher, dass sie weiter an der Spitze bleiben werden.
Sehen Sie einen neuen Wunsch nach mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft, nach stärker dirigistischen Maßnahmen, nach einem Staat, der stärker regulierend in die Wirtschaft eingreift?
Die Zeiten haben sich geändert, und ich glaube, das hat ganz viel zu tun mit der schwindenden Zuversicht. Auch die, denen es gut geht, sind nicht sicher, wie alles weitergehen wird angesichts des schnellen technologischen Wandels und der Globalisierung. Sozialdemokratische Parteien sind zuversichtliche Parteien. Sie treten an, weil sie die Zukunft besser machen wollen.
Wenn die Zuversicht abnimmt in der Gesellschaft, ist das eine Herausforderung für sozialdemokratische Parteien. Zugleich gibt es eine wachsende Kluft zwischen denen, die sehr reich sind, und denjenigen, die sehr wenig Geld haben.
Eine Politik, die auf den Zusammenhalt der Gesellschaft setzt, muss darauf reagieren. Genau darum geht es, wenn wir Mindestlöhne oder die Grundrente durchsetzen. Wir müssen um die Zuversicht unserer Gesellschaft ringen. Darum fordere ich soziale Bürgerrechte für das 21. Jahrhundert, auf die man sich in Zeiten des schnellen und grundlegenden Wandels verlassen kann.
An was denken Sie da?
Ich denke beispielsweise an einen Rechtsanspruch, auch im Alter von 41 oder 52 Jahren noch mal eine neue Berufsausbildung machen zu können. Und zwar nicht zu den Bedingungen eines Heranwachsenden, sondern eines Bürgers, einer Bürgerin in der Mitte des Lebens. Einen Rechtsanspruch! Schließlich muss niemand, der heute studieren will oder einen Lehre beginnen möchte, einen Sachbearbeiter in einer Behörde um Erlaubnis bitten.
So können wir Vertrauen in die Zukunft schaffen. Denn der technologische Wandel verändert Berufsfelder stark und niemand kann sicher sein, dass es seinen Job auch in 15 oder 20 Jahren noch gibt. Er sollte sich aber darauf verlassen können, dass er dann zu ordentlichen Bedingungen einen neuen Beruf erlernen kann.
Und es geht um weitere Handlungsfelder: Es hilft, wenn wir als Eltern wissen, dass wir keine Gebühren zahlen müssen, wenn wir unsere Kinder in die Krippe oder Kita bringen. Es schafft Vertrauen in die Zukunft, wenn ich sicher bin, dass ich mir einen Pflegedienst leisten kann oder eine Wohnung. Wenn wir durch eine solche Politik die Zuversicht in unserer Gesellschaft stärken, stärken wir auch die SPD als fortschrittliche Partei.
Zuversicht könnte auch damit zu tun haben, ob die Menschen meinen, es gehe gerecht zu. Wie wollen Sie dafür sorgen, dass Reiche mehr beitragen als andere?
Das tun wir. Am Donnerstag hat der Bundestag den Soli abgeschafft, aber nicht für alle. 90 Prozent werden ihn in gut einem Jahr nicht mehr zahlen, weitere 6,5 Prozent werden weniger zahlen. Damit entlasten wir untere und mittlere Einkommen. Jemand, der eine Million oder zwei Millionen Euro im Jahr verdient, braucht keine Steuersenkung. Im Wahlkampf 2021 werden FDP, CDU und CSU wahrscheinlich genau dieser Gruppe Steuersenkungen versprechen. Auf diese Auseinandersetzung freue ich mich schon heute.
Wird es dann auch um Steuererhöhungen für diese Gruppe gehen?
Im Wahlprogramm 2017, an dem ich mitgearbeitet hatte, steht genau das – und das gilt noch heute. Wir wollen Entlastung im unteren und mittleren Bereich, dafür moderat die sehr hohen Einkommen etwas stärker in die Pflicht nehmen, zur Finanzierung des Gemeinwesens beizutragen.
Sie sprechen von Steuern auf Einkommen. Braucht es nicht auch eine Vermögensteuer?
Die Vermögensteuer ist 1997 einfach verschwunden, obwohl der Bundestag das nie beschlossen hat und sie über Jahrzehnte, in denen übrigens zumeist die Union regiert hat, klaglos gezahlt wurde. Die Verfassungsrichter hatten dem Gesetzgeber seinerzeit lediglich aufgegeben, die unterschiedliche Behandlung von Immobilienvermögen und anderen Vermögen bei der Besteuerung zu beenden.
Das hat der Gesetzgeber nicht getan, so ist die Steuer damals ersatzlos verschwunden. Ich glaube, das ist eine Wunde, auch im demokratischen Bewusstsein unseres Landes. Die Wiedererhebung der Vermögensteuer nach Schweizer Vorbild halte ich deshalb für richtig.
Gesetzt den Fall, die SPD stellt nach den nächsten Bundestagswahlen doch nicht den Kanzler. Würden Sie unter einer grünen Kanzlerin oder einem grünen Kanzler weiter Vizekanzler bleiben wollen?
Ich will eine mutige SPD. Und ihr soll es um einen sozialdemokratischen Regierungschef gehen.
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