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Deutschlandweit sind derzeit Kundgebungen, die zum Zusammenhalt Europas aufrufen.
© Kai-Uwe Heinrich

Unterschiede zwischen Ost und West: Das große Bangen um die Europäische Union

Im Frühjahr 2004 wurde die Osterweiterung gefeiert. Nun muss sich Europa wieder wandeln - und Wege aus der Krise finden

Es ist der 30. April 2004, kurz vor Mitternacht, als EU-Kommissar Günter Verheugen mit dem Runterzählen beginnt. Im Fernsehen ist live zu sehen, wie die deutsche ZDF-Moderatorin Nina Ruge sich zwar noch an der Vier verschluckt, aber Verheugen überstimmt sie mit „drei, zwei, eins, jetzt!“. An der deutsch-polnischen Grenze in Frankfurt an der Oder werden Sektflaschen entkorkt, in Berlin erklingt die Ode an die Freude. Die Osterweiterung der Europäischen Union, von 15 auf 25 Länder, wurde damals kräftig gefeiert. Die Osterweiterung bedeutete das Ende der europäischen Teilung, die den Kontinent seit 1945 geprägt hatte. Die Euphorie und die Zuversicht, Europa werde zusammenwachsen, waren groß. Dass die Europäische Union kaum 13 Jahre nach dem „Big Bang“ in eine Krise geraten würde, hat damals niemand ahnen können.

Staaten mussten sich für den Beitritt wandeln

Es waren vor allem ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten wie Ungarn, Polen und Tschechien, die der EU beitraten. Eine große Herausforderung für EU-Kommissar Günter Verheugen, denn die „alten“ und „neuen“ Länder waren sich fremd. „Der Westen hatte sich in den Jahren des Kalten Krieges immer mehr auf sich selbst konzentriert. So verschwanden die Mitte und der Osten des Kontinents im Diffusen – als etwas Fremdes, Uninteressantes, ein Quasi-Sibirien. Für diese Länder aber ist die EU-Integration der verlässlichste Weg, um zu verhindern, noch einmal zum Spielball in der Geschichte zu werden.“

Um die EU-Kriterien erfüllen zu können, mussten die Staaten ihre gesellschaftlichen Strukturen komplett umwandeln und sich den westlichen Normen anschließen. Das alles mussten die Bürger im Osten Europas in den Jahren zwischen Mauerfall und EU-Beitritt erst einmal verinnerlichen, aber nach 1989 wurden sie, laut Verheugen, „allenfalls als neue Märkte, nicht aber als natürliche europäische Partner angesehen. Das hat den Erweiterungsprozess sehr belastet und wirkt auch heute noch nach.“

Menschen winken mit polnischen und Europafahnen bei den Feiern zum EU-Beitritt auf dem Zamkowy-Platz in Warschau. Feuerwerke, Konzerte und Volksfeste: In ganz Europa haben Millionen Menschen die Erweiterung der EU 2004 gefeiert.
Menschen winken mit polnischen und Europafahnen bei den Feiern zum EU-Beitritt auf dem Zamkowy-Platz in Warschau. Feuerwerke, Konzerte und Volksfeste: In ganz Europa haben Millionen Menschen die Erweiterung der EU 2004 gefeiert.
© dpa/EPA/PAP Rybarczyk

Die gefühlte Einheit auf dem Kontinent war damit vielleicht immer schon porös, aber mit der verunsicherten wirtschaftlichen Lage kommt sowohl im Westen Europas als auch in Ländern wie Polen und Ungarn der Nationalismus hoch. Ein Teil des Problems liegt laut Tom de Bruijn, der als Ständiger Vertreter der Niederlande in Brüssel an den Beitrittsverhandlungen teilnahm, in den gespaltenen Werten und Erwartungen der Mitgliedstaaten an die EU. „Für die westeuropäischen Länder, die sich 1951 der EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle für Stahl) anschlossen, war die interne Versöhnung ein wichtiger Punkt. Denn mit dem Handel dieser Rohstoffe, die man für einen Krieg braucht, wuchs man über die Ökonomie weiter zusammen.

Wir sollten uns in der Europäischen Union an den Grundsatz halten, dass nur das auf europäischer Ebene zu regeln ist, was die einzelnen Mitgliedsstaaten in ihrem Bereich nicht wirksam regeln können. Dazu gehört z.B. eine einheitliche Außenpolitik.

schreibt NutzerIn MarcusBrutus

Den Wunsch nach interner Versöhnung hatte Großbritannien, als es 1973 beitrat, kaum. Den Briten ging es vor allem um den Binnenmarkt. Auch die osteuropäischen Länder verfolgten eher andere Ziele. Am wichtigsten war ihnen die Sicherheit ihrer Grenzen, die weitere Einbettung in die Sicherheitsstruktur gegen den ,russischen Bären‘, die erst von der Nato geboten und von der EU bestätigt wurde.“

Aussöhnung spielt Rolle für Integration

Günter Verheugen hält das für „überheblich und grundsätzlich falsch. Die mittel- und osteuropäischen Länder waren historisch chancenlos geblieben, das Einigungswerk mitzubeginnen, aber auch für sie, wie auch für die Deutschen, spielt Aussöhnung im Rahmen der Integration eine große Rolle.“ Dass die Integration aber nicht wie am Schnürchen verlief, erinnert auch de Bruijns ehemaliger deutscher Kollege in Brüssel, Wilhelm Schönfelder. „Es wurde erst recht klar in der Haltung des damaligen Präsidenten Tschechiens, Václav Klaus. Der hat immer gemeint, die Tschechen haben lange in einer Union gelebt, das werden die nie wieder tun.“

Genauso erging es den Polen. Als Schönfelder Anfang der 90er Jahre als Ko-Vorsitzender der deutsch-polnischen Kommission für die wirtschaftliche Entwicklung im Grenzgebiet Deutschland-Polen mit den östlichen Nachbarn über Förderung sprach, hieß es, „die Germanen wollen wieder Polen kaufen. Es war gar nicht einfach, den Polen klarzumachen, dass sie jetzt Teil der Europäischen Union sind. Da dachte ich mir, das wird auch noch eine Weile dauern, bis die neuen Länder der EU vollständig angehören.“

Deswegen hat Schönfelder immer für das „Regatta-Prinzip“ plädiert. „Alle Länder fahren gleichzeitig los, doch nicht allen kommen zum selben Zeitpunkt an. Erst wenn ein Land allen Aspekten der EU-Kriterien genügt, kann es beitreten.“ „Politisch verheerend“, kommentiert Verheugen dieses Prinzip. „Es hat zwar den Beitrittsprozess in Gang gebracht, aber es bewirkte einen massiven Vertrauensverlust gegenüber der EU, etwa in Litauen oder Lettland. Man sah sich abgehängt. Erst als 1999 diese Politik wieder korrigiert wurde, begann eine massive Reformwelle.“ Es lief auf den Big Bang hinaus, denn „die Macht der Politiker und Botschafter ist anders verteilt worden“, sagt Schönfelder im Rückblick.

Blaue Luftballons werden 2004 auf dem Europafest zum EU-Beitritt Polens in Zgorzelec steigen gelassen.
Blaue Luftballons werden 2004 auf dem Europafest zum EU-Beitritt Polens in Zgorzelec steigen gelassen.
© imago/Busse

Lange Zeit sah es so aus, als hätte er als Fürsprecher des schrittweisen Beitritts unrecht gehabt. Die Zusammenarbeit verlief gut. Erst als dann 2008 die Wirtschaftskrise zuschlug, wurden die schlummernden Spannungen sichtbar. Das zeigt sich zum Beispiel an der Flüchtlingspolitik Europas. Die westeuropäischen Länder ärgern sich über die Weigerung ihrer östlichen Nachbarn, Menschen aufzunehmen. Laut Verheugen ungerecht, denn „diejenigen, die das damals vollmundig beschlossen, setzen den Beschluss, um es ganz vorsichtig auszudrücken, auch nicht mit Verve um. Beim Thema Flüchtlinge klafft inzwischen in der ganzen EU eine riesige Kluft zwischen der humanitären Verantwortung und dem, was wirklich passiert.“

Es ist nicht die einzige Kluft, mit der die EU kämpft. Immer öfter ist von dem Europa der zwei Geschwindigkeiten die Rede. Laut Wilhelm Schönfelder ist das vielleicht sogar die einzige Lösung, um die EU wieder aus der Krise zu retten, solange man den Ländern spätere Wahlmöglichkeiten offenhält. „Damals ging es mit Schengen auch so. Daran haben sich erst nur einige Länder beteiligt. Als es dann gut lief, haben sich andere angeschlossen. Ich glaube jetzt auch, dass, wenn einige Länder etwa auf dem Gebiet der inneren und äußeren Sicherheit enger zusammenarbeiten, es andere mitzieht und die EU endlich mal wieder aus der Sackgasse herauskommt.“

EU soll kein "Supermarkt" werden

Tom de Bruijn ist mit ihm einer Meinung, wenn auch mit einigen Vorbehalten. „Die EU sollte kein Supermarkt werden, in dem man nach Belieben seinen Wagen vollladen kann. Man sollte deshalb versuchen, ein Kerneuropa zu schaffen, und sich Austauschmöglichkeiten ausdenken. Aufnahme von Flüchtlingen im Gegenzug zum Grenzschutz etwa. Ich glaube, solche Themen bringen die Solidarität zurück, denn die Grenzen zu sichern, ist nicht nur den osteuropäischen Ländern recht, sondern allen EU-Bürgern.“ Verheugen schließt sich dem nicht an. „Wissenschaftlich betrachtet kann man sich unter mehreren Geschwindigkeiten alles vorstellen. Politisch muss man sich fragen: Wem nützt es?“ Die größte Kluft der EU sei vielleicht die zwischen Theorie und Praxis.

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