EU-Osterweiterung vor zehn Jahren: Als die Lebenslust ans Moldau-Ufer zurückkehrte
Auch Tschechien wurde vor zehn Jahren in die EU aufgenommen. Für viele, vor allem jüngere Leute eröffneten sich dadurch neue Chancen und ein modernes Lebensgefühl. Doch auch die Zahl der Skeptiker ist groß - bis heute.
Der beste Platz, um den Wandel Tschechiens zu verstehen, ist mitten in Prag: Dort, gleich am Ufer der Moldau, treffen sich jeden Abend die Prager bei Live-Musik und frisch gezapftem Bier, die Füße lassen sie ins Wasser baumeln. Dieses urbane, legere Leben wäre noch vor zehn Jahren kaum denkbar gewesen – aber seither ist in Tschechien eine lebendige Zivilgesellschaft entstanden, die Bürger erobern sich ihre Städte zurück und nehmen teil am öffentlichen Leben.
„Mir hat das Leben unten an der Moldau gefehlt, also wollte ich etwas daran ändern“, sagt Martin Kontra. Der 45-Jährige ist Visionär, Aktivist und Gastronom in Personalunion: Er hat an der Promenade gleich neben dem Ufer eine Freiluft-Musikkneipe eröffnet, für die er jeden Abend eine andere Liveband organisiert. Bajkazyl heißt der angesagte Laden, der auch noch eine angeschlossene Fahrradwerkstatt hat. Die Geschäfte laufen blendend: An lauen Frühlings- und Sommerabenden stehen die Prager für ihr Bier hier am Moldauufer in ellenlangen Schlangen an.
Die Erfolgsgeschichte von Martin Kontra steht symbolisch für die Veränderungen, die Tschechien im ersten Jahrzehnt nach dem EU-Beitritt durchlebt hat: Während zuvor viele Bürger noch den „Rückzug ins Private“ im Blut hatten, dieses sozialistische Lebensmotto des Nicht-Auffallens und sich-bloß-nicht-aus-dem-Fenster-Lehnens, blühen heute gerade in Prag die Initiativen, in denen sich die Menschen für ihre Herzensangelegenheiten engagieren. Viele von ihnen gehören zur jungen Generation, die sich ein Leben ohne EU nicht mehr vorstellen kann: Fast 60 000 Studenten und mehr als 20.000 Lehrer und Professoren waren auf Erasmus-Austausch im europäischen Ausland – gute Ideen und vor allem den modernen europäischen Lebensstil bringen sie anschließend mit in ihre Heimat, die sie so nach und nach umkrempeln.
Trotzdem: Euphorische Europa-Anhänger sind nicht alle Tschechen. Prominentestes Aushängeschild der Skeptiker ist der frühere Staatspräsident Václav Klaus, der regelmäßig gegen die Union stichelt und mit seiner monatelang verzögerten Unterschrift unter den Lissabon-Vertrag sogar die ganze EU in Atem halten konnte. Brüssel, das ist sein großes Argument, gefährde die Eigenständigkeit des Landes, die es sich nach langer Zeit unter sowjetischer Vorherrschaft so mühsam erkämpft habe. Die meisten seiner Landsleute sehen das anders: Mehr als 77 Prozent der Tschechen haben 2003 beim Referendum über den EU-Beitritt mit Ja gestimmt. In der Politik gibt es indes immer noch eine starke Gruppe der Pragmatiker, die das europäische Projekt ohne Leidenschaft betreiben. Der aktuelle Präsident Milos Zeman könnte das allmählich ändern: Als eine seiner ersten Amtshandlungen ließ er das EU-Banner vor der Prager Burg hissen, dem traditionellen Sitz der tschechischen Präsidenten – Václav Klaus hatte die Fahne von dort verbannt. „Ich war immer der Meinung, dass die EU eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik braucht und natürlich auch eine gemeinsame Fiskalpolitik“, sagte Milos Zeman bei dieser Gelegenheit.
Von der EU-Mitgliedschaft hat Tschechien vor allem wirtschaftlich profitiert: Das Land mit seinen zehn Millionen Einwohnern ist – mit Ausnahme des wesentlich kleineren Sloweniens – das wohlhabendste der östlichen EU-Länder; es galt schon zu sozialistischen Zeiten als „Schweiz des Ostblocks“. Weil Tschechien eine lange Tradition im Maschinenbau hat, gedeihen hier wegen der guten Fachkräfte zahlreiche einheimische und ausländische Firmen. Die Nähe zu den alten EU-Ländern hat zusätzlich als wirtschaftlicher Turbo gewirkt – Berlin, aber auch München und Wien liegen gerade einmal dreieinhalb Stunden Autofahrt von Prag entfernt.