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Im Verteidigungsmodus: Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen
© Axel Schmidt, AFP

Baerbock unter Dauerdruck: Das Bedürfnis nach Empörung ist größer als der Anlass

Annalena Baerbock will Kanzlerin werden. Auch deshalb hat sie menschlich viel Fieses auszuhalten. Ganz unschuldig ist sie daran allerdings nicht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Hand aufs Herz. Erinnern Sie sich, warum diese Politiker zurücktreten mussten? Rita Süssmuth, Kurt Beck, Jürgen Möllemann, Günther Krause, Cem Özdemir, Christian Wulff. Politik-Nerds haben die Antworten natürlich parat.

Die Gründe reichen von der Dienstwagen- über die Briefbogen- bis zur Putzfrauenaffäre. Dann gab’s das „Drama vom Schwielowsee“, ein Bobbycar und privat verflogene Bonusmeilen. Aber in den meisten Fällen war das Bedürfnis nach Empörung weitaus größer, als der Anlass der Empörung es hergegeben hätte.

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Der Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, wird vorgeworfen, in ihrem Buch „Jetzt – Wie wir unser Land erneuern“ Textpassagen wörtlich übernommen zu haben, ohne sie als Zitat zu kennzeichnen. Das Buch ist keine Doktorarbeit, die inkriminierten Passagen sind weder poetisch herausragend, noch enthalten sie exklusive Informationen.

Dennoch ölen die Vorwürfe die Maschinerie der Aufregung. Zum einen schwingt in ihnen der Plagiatsverdacht mit, was Parallelen zu Karl-Theodor zu Guttenberg und Annette Schavan suggerieren soll. Zum anderen ist Baerbock angeschlagen, weil es Ungereimtheiten in ihrem Lebenslauf gegeben hatte. Wenn das Wild verwundet ist, setzt die Meute zum Erlegen an.

Die Grünen sind eine moralische Partei. Jedenfalls werden sie so wahrgenommen. Als Annalena Baerbock unlängst mit dem Kanzlerkandidaten der Union, Armin Laschet, und dem der SPD, Olaf Scholz, über Außen- und Sicherheitspolitik diskutierte, war sie es, die als einzige für eine härtere Gangart gegenüber Russland (gegen Nord Stream 2) und Ungarn (EU-Fördergelder streichen) plädierte. Die Annexion der Krim dürfe eben so wenig toleriert werden wie Ungarns Tendenz ins Autokratische. Damit brachte sie Laschet und Scholz in Verlegenheit.

Das klingt oft eher fromm als interessenzentriert

Auch die Klimaschutzrhetorik der Grünen – „Bewahrung der Schöpfung“ – klingt oft eher fromm als interessenzentriert, was überrascht, wenn aktuell in den Nachrichten über die Irrsinnshitze im Nordwesten der USA und Kanada berichtet wird. Doch nur wenigen grünen Idealisten gelingt es, ihre Botschaften als knallharten Realismus zu kommunizieren. Wer allerdings in erster Linie Moral predigt, macht sich moralisch angreifbar.

Außerdem ist Wahlkampfzeit, über die der Meta-Grüne und Oberrealo Joschka Fischer sagt: „Wenn es um die Macht geht, wird nicht mit Wattebäuschchen geworfen.“ Es sei nicht die Zeit für gepflegte Diskurse, stattdessen sei Attacke angesagt, „dagegenhalten und nicht wegziehen“. Kann Baerbock das?

Ihre Gegner wollen den Druck auf sie hochhalten, damit jede Forderung, endlich über Inhalte zu reden, wie ein Ablenkungsmanöver wirkt. Außerdem nützt ihnen die Baerbock-Debatte, weil dadurch die eigenen gravierenden persönlichen und politischen Versäumnisse wie vergessen scheinen. Wer spricht noch über das Pkw-Maut-Debakel von Verkehrsminister Andreas Scheuer? Wer über die Maskenaffäre der Union? Wer über die Lobbyarbeit der Aserbaidschan-Connection?

Wahlen gewinnt, wer im Wahlkampf keine Fehler macht

Wahlen gewinnt, wer im Wahlkampf keine Fehler macht. Der Klimaschutz, das grüne Urthema, rangiert bei vielen Deutschen weit oben auf ihrer Prioritätenliste. Das spricht für die Grünen – und für Annalena Baerbock. Doch sie muss wissen: Kaum ein Politiker stürzt allein über persönliche Verfehlungen, sondern vor allem über einen falschen Umgang mit der Debatte darüber.

Wer Kanzlerin werden will, muss mit Wladimir Putin, Xi Jinping und Viktor Orbán verhandeln. Sich im Wahlkampf an den Obsessionen eines österreichischen Plagiatsjägers die Zähne auszubeißen, wäre ein fatales Signal.

Annalena Baerbock hat menschlich viel Fieses auszuhalten. Ganz unschuldig ist sie daran nicht. Die Vorhaltungen aber, derer sie sich erwehren muss, lassen sich nicht einmal als lässliche Sünden charakterisieren, sondern deuten allenfalls auf etwas Eitelkeit und Naivität hin. Wer davon frei ist, werfe weitere Steine. Alle anderen sollten sich ein Restgefühl an Proportionen bewahren.

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