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Will klare Entscheidungen: Kanzlerin Angela Merkel (CDU).
© dpa

Tag der Entscheidung zur Corona-Bremse: Darum drängt Merkel jetzt auf einen Wellenbrecher-Lockdown

Kanzlerin Merkel ist tief besorgt: Wie kann die neue Corona-Welle gebrochen werden? Warum sie harte Maßnahmen im November als entscheidend ansieht.

Das Beschlusspapier vom 14. Oktober sollte eines mit „historischer Dimension“ sein, so hatte Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) formuliert. „Ziel allen staatlichen Handelns in den kommenden Wochen wird es bleiben, die Infektionsdynamik in Deutschland unter Kontrolle zu behalten“, hieß es darin. Das Zwischenfazit fällt aus Sicht des Kanzleramts verheerend aus, die Corona-Lage ist dem Kontrollverlust nahe.

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Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte damals prophezeit, das reiche nicht, so sitze man in zwei Wochen wieder zusammen. Diese Vorhersage tritt nun ein. An diesem Mittwoch soll es bei neuen Beratungen zwischen Kanzlerin und den 16 Regierungschefs der Länder, dieses Mal wieder per Videoschalte, besser klappen.

Dafür hat sie an die Länder eine Beschlussvorlage verschicken lassen, die es in sich hat sie liegt dem Tagesspiegel vor: In dem Entwurf, datiert auf Montagabend. 22.29 Uhr wird gleich im ersten Satz klargemacht, dass das Treffen vom 14. Oktober mit Beschlüssen für Sperrstunden und eine Ausweitung der Maskenpflichten viel zu wenig war, an kleinen Stellschrauben soll jetzt nicht mehr gedreht werden: "Trotz der Maßnahmen, die Bund und Länder vor zwei Wochen vereinbart haben, steigt die Zahl der Infektionen mit dem Coronavirus (SARS-CoV-2) inzwischen in nahezu allen Regionen Deutschlands mit exponentieller Dynamik an."

Unter Koalitionspolitikern ist von einer Art "Wellenbrecher-Lockdown" die Rede, nicht so hart wie im Frühjahr, aber doch mit massiven Einschränkungen. Er soll gelten vom 4. November bis 30. November, mit Überprüfung durch Bund und Länder nach zwei Wochen. Merkel will Kontakte auf ein Minimum reduzieren: "Der Aufenthalt in der Öffentlichkeit ist daher ab sofort nur mit den Angehörigen des eigenen und eines weiteren Hausstandes gestattet" es soll Kontrollen und Bußgelder geben.

Die weiteren Punkte im Wortlaut:

1. Bürgerinnen und Bürger werden aufgefordert, generell auf private Reisen und Besuche -auch von Verwandten- zu verzichten. Das gilt auch im Inland und für überregionale tagestouristische Ausflüge. Übernachtungsangebote im Inland werden nur noch für notwendige und ausdrücklich nicht touristische Zwecke zur Verfügung gestellt.

2. Institutionen und Einrichtungen, die der Freizeitgestaltung zuzuordnen sind, werden geschlossen. Dazu gehören Theater, Opern, Konzerthäuser, und ähnliche Einrichtungen; Messen, Kinos, Freizeitparks und Anbieter von Freizeitaktivitäten (drinnen und draußen), Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und ähnliche Einrichtungen; Prostitutionsstätten, Bordelle und ähnliche Einrichtungen; der Freizeit- und Amateursportbetrieb auf und in allen öffentlichen und privaten Sportanlagen, Schwimm- und Spaßbädern; Fitnessstudios und ähnliche Einrichtungen.

3. Veranstaltungen, die der Unterhaltung dienen, werden untersagt.

4. Gastronomiebetriebe sowie Bars, Clubs, Diskotheken, Kneipen und ähnliche Einrichtungen werden geschlossen. Davon ausgenommen ist die Lieferung und Abholung mitnahmefähiger Speisen für den Verzehr zu Hause.

5. Dienstleistungsbetriebe im Bereich der Körperpflege wie Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo-Studios und ähnliche Betriebe werden geschlossen, weil in diesem Bereich eine körperliche Nähe unabdingbar ist. Medizinisch notwendige Behandlungen, zum Beispiel Physiotherapien, bleiben weiter möglich.

6. Friseursalons bleiben unter den bestehenden Auflagen zur Hygiene geöffnet.

7. Der Einzelhandel bleibt unter Auflagen zur Hygiene, zur Steuerung des Zutritts und zur Vermeidung von Warteschlangen insgesamt geöffnet. Dabei ist sicherzustellen, dass sich in den Geschäften nicht mehr als ein Kunde pro 25 qm Verkaufsfläche aufhält.

8. Schulen und Kindergärten bleiben offen. Angesichts der hohen Infektionszahlen werden weitere Schutzmaßnahmen durch die Länder eingeführt.

Es geht um zwei Wege: Scharfes Bremsen wie Merkel es will, oder mit kleineren Eingriffen versuchen, die Lage in den Griff zu bekommen, was mehrere Länder bevorzugen.. Merkel erhöhte im Vorfeld noch einmal den Druck auf die Ministerpräsidenten, warnte dass Deutschland in Situationen kommen könnte, "die ausgesprochen schwierig sind".

Neuinfektionen sollen auf ein Drittel sinken

Um die Dynamik zu bremsen und um die Zahl der Todesfälle nicht rasant anteigen zu lassen, ist es nach Ansicht von Experten erforderlich, die Zahl der Neuinfektionen von derzeit 12.000 am Tag auf 4000 herunterzudrücken. Dafür wäre über mehrere Wochen ein Reduzieren der Kontakte um 50 bis 75 Prozent notwendig, um bis Dezember eine deutliche Trendwende zu erreichen. Zumal die Hoffnung wächst, dass Anfang 2021 ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung stehen könnte.

Wie lässt es sich am besten erreichen? Welche Maßnahmen entsprechen der Verhältnismäßigkeit und des Gleichbehandlungsgrundsatzes, werden also nicht wie die Beherbergungsverbote von Gerichten wieder kassiert? Und machen die Bürger nochmal mit? Merkel will daher eine klare, verständliche Bremse einziehen, wie nur für Tourismus, Gastronomie und den gesamten Freizeitbereich geplant - auch weil die Erfahrung im Frühjahr gezeigt hat, dass das am ehesten funktioniert und auch gerichtsfest ist. Es sind aber auch weitere Hilfen für die betroffenen Branchen notwendig.

Nicht einverstanden: Die Corona-Maßnahmen polarisieren zunehmend das Land.
Nicht einverstanden: Die Corona-Maßnahmen polarisieren zunehmend das Land.
© Christian Mang

Die Welle brechen, aber wie?

„Die zusätzlichen Maßnahmen sollten zielgerichtet, zeitlich befristet und fokussiert sein“, betont Vizekanzler Olaf Scholz. Übersetzt heißt das: Er teilt Merkels Linie. Das soll auch den wirtschaftlichen Schaden geringer halten, als wenn die Lage vollends entgleitet und ein harter, längerer Lockdown nötig werden könnte - Deutschland kam in der ersten Welle auch gut durch die Krise, weil die meisten Maßnahmen das Infektionsgeschehen bremsen konnten, und weil die Bürer sehr diszipliniert waren.

Doch der Widerstand gegen Merkels Pläne war im Vorfeld groß. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sagt, seine rot-rot-grüne Landesregierung werde Lockdown-Pläne nicht mittragen. Die lokale Infektionsentwicklung müsse weiter Grundlage für Entscheidungen sein. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) ist auch für eine deutliche Verschärfung, er kann sich vor allem strenge, allgemeine Kontaktbeschränkungen vorstellen, eine Option sind 5 Personen oder zwei Hausstände.

Schleswig-Holstein will eine Kontaktbeschränkung aber nur auf bis zu zehn Personen, diese werde dort für alle Bereiche auch im Freien in den nächsten drei Wochen gelten, sagt Ministerpräsident Daniel Günther (CDU). Eine andere Idee sind bundesweite Sperrstunden schon ab ab 21 Uhr oder früher. Das reicht Merkel aber nicht.

Einig ist man sich bei Bund wie Ländern bisher vor allem in diesen Punkten: Die Grenzen sollen möglichst offen bleiben, auch wenn gerade in Bayern die enorm hohen Zahlen im benachbarten Tschechien große Nervosität auslösen. Auch Geschäfte und Friseure sollen geöffnet bleiben, da es hier dank Masken überschaubare Risiken gibt.

Ebenso könnte die Fußball-Bundesliga dank der funktionierenden Hygienekonzepte weiterspielen. Weit umstrittener ist der Freizeitsport und die Frage, ob größere Veranstaltungen untersagt werden sollten, in Berlin wurden erst einmal die Obergrenzen auf 500 draußen und 300 drinnen gesenkt.

Die Überforderung nimmt zu

Merkels Appelle, Kontakte drastisch reduzieren, scheinen kaum zu fruchten, es gibt eine gewisse Corona-Müdigkeit, bisher nicht so dramatische Bilder wie im März aus Italien und wachsenden Protest. In Städten wie Berlin gibt es inzwischen ob der Zahlen einen Kontrollverlust bei der Kontaktnachverfolgung.

Bund und Länder hatten die Gesundheitsämter personell so aufgestellt, dass sie bis 35, maximal 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen, damit die infizierten nicht zu viele weitere Personen anstecken. Da das System nicht mehr richtig funktioniert, sind auch die meisten Ansteckungsherde unklar, ob in der Schule, in der Kneipe oder in der Bahn: alles ist möglich.

Man bräuchte aktuell rund 2,1 Millionen Tests pro Woche, das ist fast eine Million mehr als derzeit möglich. Auch Corona-Medikamente wie Remdesivir werden europaweit knapp. Immerhin wurden bisher auch rund 37.000 positive Tests an die Corona-App gemeldet, so das hierüber auch viele Warnungen erfolgen, während Gesundheitsämter vielerorts nicht mehr nachkommen.

Da aber der R-Wert – der Wert, wie viele weitere Personen eine positive Person ansteckt – zuletzt immer wieder bei über 1,3 gelegen hat, bleibt das Wachstum exponentiell und könnte in wenigen Tagen die Schwelle von 20.000 Neuinfektionen am Tag erreicht werden, ein Wert, den Merkel erst für Weihnachten vorhersagte.

Eigentlich wären über zwei Millionen Tests pro Woche notwendig, um die Lage besser zu beherrschen.
Eigentlich wären über zwei Millionen Tests pro Woche notwendig, um die Lage besser zu beherrschen.
© dpa

Der Puffer in den Kliniken schmilzt

Sorge bereitet auch der Blick auf eine andere Zahl: die der Intensivpatienten. 1474 Covid-19-Patienten mussten am Dienstag intensivmedizinisch behandelt werden, davon wurden 690 beamtet. Binnen einer Woche stieg die Zahl der Intensivpatienten um über 60 Prozent. Der bisherige Rekord an Corona-Intensivfällen war der 18. April mit 2933 Patienten. Die Zahl freier Intensivbetten ist aktuell auf unter 7700 gesunken.

Das sind anders als in Frankreich noch große Reserven, aber auch in Deutschland könnte eine dramatische Lage entstehen. Zudem droht ein Mangel an Intensivpflegekräften, gerade wenn zu viele durch Infektionen oder Quarantäne ausfallen sollten.

Nachdem Ostern quasi ausgefallen ist, geht es aus Merkels Sicht auch darum, jetzt mit schärferen Einschnitten das Weihnachtsfest zu retten, dass auch Gottesdienste möglich bleiben. Doch die Gemengelage zeigt: Bei den Zielen ist man sich einig, bei den Wegen dahin nicht.

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Charité-Chefvirologe Cristian Drosten fordert: Jetzt auf die Bremse treten.
Charité-Chefvirologe Cristian Drosten fordert: Jetzt auf die Bremse treten.
© dpa

Lauterbach und Drosten für Merkel-Kurs

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach wirbt wie Merkel für eine Wellenbrecher-Lösung, eine befristete Schließung zahlreicher Einrichtungen für zwei Wochen, bei der man bundesweit Restaurants, Bars, Kneipen, Kulturstätten, Fitnessstudios und Vereine schließt. In Betrieben sollte vor allem Homeoffice gemacht werden. Auch Charité-Virologe Christian Drosten ist für einen zeitlich begrenzten Lockdown.

"Wenn die Belastung zu groß wird, dann muss man 'ne Pause einlegen", sagte er NDR-Info. "Dieses Virus lässt nicht mit sich verhandeln", sagte Drosten. "Wenn wir jetzt einmal auf die Bremse treten würden, dann hätte das einen ganz nachhaltigen Effekt." Er ist für etwa drei Wochen - etwas mehr als eine Quarantänezeit brauche man aus Sicht des Wissenschaftlers dafür. "Die Inzidenz ist danach erheblich gesenkt und ist dann auch unter bestimmten Umständen auf lange Frist gesenkt."

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