Kliniken an der Kapazitätsgrenze: Frankreich steht offenbar vor Kurz-Lockdown
Französische Regierungsberater zeigen sich schockiert über die „Brutalität“ des Anstiegs bei den Neuinfektionen. Jetzt drohen strengere Ausgangssperren – oder ein Lockdown.
Die Zahl der Menschen, die sich in Frankreich neu mit dem Coronavirus angesteckt haben, könnte noch deutlich höher sein als bislang angenommen. Wahrscheinlich liege die tatsächliche Zahl „eher bei um die 100.000 Fälle am Tag“, sagte Jean-François Delfraissy, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats, zu Wochenbeginn im Gespräch mit dem französischen Sender „RTL“. Der Beirat berät die französische Regierung im Umgang mit dem Virus.
„Wir haben vorausgesagt, dass es diese zweite Welle geben wird, aber wir selbst sind überrascht von der Brutalität dessen, was in den letzten zehn Tagen geschehen ist“, sagte Delfraissy. Andere Experten sprechen sogar von bis zu 200.000 Infektionen pro Tag.
Die Gesundheitsbehörden in Frankreich hatten am Sonntagmorgen ein Rekordhoch an Neuinfektionen gemeldet: Binnen eines Tages hätten sich nachweislich 52.010 Menschen mit dem Coronavirus angesteckt. Seit Samstag waren zudem 116 neue Todesfälle gemeldet worden. Am Montag meldeten die Behörden 26.771 neue Corona-Infektionen binnen 24 Stunden, die Zahl der im Zusammenhang mit dem Coronavirus verstorbenen Menschen stieg um 258. Die Positivrate der Tests lag weiter bei knapp 14 Prozent.
Einige Kliniken in den besonders betroffenen Regionen kommen an ihre Kapazitätsgrenze. Nach Angaben der Zeitung „Libération“ sind bereits 67 Prozent der 1200 Intensivbetten der Region rund um Paris mit Coronavirus-Patienten belegt, in drei Wochen könne das System an seine Grenzen stoßen. Eine aktuelle Studie hatte gezeigt, dass die Belastung des Gesundheitspersonals enorm zugenommen habe.
Eric Caumes, Infektiologe am renommierten Krankenhaus Pitié-Salpêtrière in Paris, sprach sich in der Zeitung „Libération“ für einen Lockdown aus: „In der Epidemiologie gibt es so etwas wie eine Ausgangssperre nicht", sagte er. Nur ein Lockdown könne die Zirkulation des Virus stoppen.
Innenminister Gérald Darmain sagte am Dienstag vor einer Krisensitzung des Kabinetts, „harte Entscheidungen“ seien unausweichlich. Am Mittwoch, so berichtete es die Zeitung „Le Monde“, soll über verschärfte Maßnahmen entschieden werden.
Ausgeweitete Ausgangssperre oder Lockdown light
Angesichts der angespannten Lage brachte der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats Delfraissy zwei mögliche Maßnahmen für die nächsten Wochen und Monate ins Gespräch. Denkbar wäre zum einen eine strengere Ausgangssperre, die sowohl mehr Stunden als bislang umfassen als auch in weiteren Regionen angewandt werden könne.
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Nach zehn bis fünfzehn Tagen müsse man dann sehen, ob sich die Lage verbessert habe. Wenn dies nicht der Fall sei, müsse man erneut in den Lockdown gehen.
Präsident Emmanuel Macron hat bereits für 54 Départements und dem französischen Überseegebiet Französisch-Polynesien eine Ausgangssperre von 21 bis 6 Uhr verhängt. Zwei Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner Frankreichs sind bereits von dieser Anti-Corona-Maßnahme betroffen.
Als zweite Möglichkeit nannte Delfraissy, „direkt in einen Lockdown zu gehen, der weniger streng ist als im März“. Arbeiten aus dem Homeoffice solle dabei eine größere Rolle einnehmen als bisher, der Schulbetrieb aber weiterhin möglich sein. Auch schlug er vor, für eine kürzere Zeit in den Lockdown zu gehen als im Frühjahr.
Ob die Schulen in Frankreich tatsächlich wieder öffnen werden, bleibt fraglich. Derzeit sind sie aufgrund der zweiwöchigen „Ferien der Allerheiligen“ („Vacances de la Toussaint“) geschlossen. Der Schulbetrieb soll normalerweise am 2. November wieder aufgenommen werden. Doch es gibt Stimmen, die bereits fordern, einen Großteil der Einrichtungen zunächst geschlossen zu lassen.
Befürchtungen über wirtschaftliche Konsequenzen
Der Präsident der größten Arbeitgebervereinigung in Frankreich „Mouvement des Entreprise de France“ („Bewegung der französischen Unternehmen“) äußerte große Bedenken hinsichtlich eines zweiten Lockdowns. Dieser würde „den Zusammenbruch der französischen Wirtschaft“ zur Folge haben, sagte er dem Radiosender „RMC“.
Die Ministerin für Arbeit, Elisabeth Borne, sagte dem Fernsehsender „LCI“, man werde versuchen, ein gutes Gleichgewicht zwischen der Gesundheit der Franzosen und der Weiterführung des wirtschaftlichen, pädagogischen und kulturellen Lebens finden. (mit AFP)