Abschiebung nach Afghanistan: "Da könnte man ja gleich mit den Leuten Russisch Roulette spielen"
19 Menschen saßen im Flug nach Kabul: Abschiebungen in Kriegsgebiete dürften gar nicht erst in Frage kommen, findet Ulla Jelpke von den Linken. Erklärungsbedarf bestehe bei "Identitätsverweigerern".
Um kurz nach sieben Uhr Ortszeit am Mittwochmorgen landete der Abschiebeflug aus Düsseldorf auf dem Flughafen in Kabul. Am selben Tag gibt es einen Anschlag auf eine Hilfsorganisation. 19 Afghanen waren an Bord - aus mehreren Bundesländern, darunter Bayern, Baden Württemberg, Schleswig-Holstein und Hessen. Deutlich weniger als offenbar gedacht. In einigen Fällen wurde die drohende Abschiebung durch Eilverfahren und Krankheiten gestoppt. Einige der 19 Afghanen hätten den Großteil ihres Lebens außerhalb ihres Geburtslandes verbracht, sagte ein Sprecher der afghanischen Organisation für Migration gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
Der Bayrische Rundfunk berichtet vom Fall eines 21-järigen Mannes, dessen Abschiebung kurzfristig ausgesetzt wurde: Dienstagmorgen gab das Verwaltungsgericht einem Eilantrag seiner Anwältin statt. Er hatte sich bereits in Abschiebehaft befunden. Laut Aussagen seiner Anhänger drohe ihm in Afghanistan die Steinigung. Grund dafür soll eine Liebesbeziehung mit seiner Cousine sein.
Der Flüchtlingsrat Bayern berichtet dem Tagesspiegel, die Abschiebungen seien so spät öffentlich geworden, dass Anwälte nur schwer juristisch dagegen hätten vorgehen können, da sie nicht an die Akten kamen. In vier Fällen jedoch konnte im letzten Moment erfolgreich gegen die Abschiebungen geklagt werden. In zwei Fällen entschied das Innenministerium, die Personen sollten doch nicht mit auf den Flug. "Von den elf uns bekannten 'Kandidaten' konnten wir in sieben Fällen erfolgreich intervenieren", sagt Stephan Dünnwald vom Flüchtlingsrat. "Das sagt einiges über die Qualität der Auswahl der Abzuschiebenden aus."
"Mitwirkungsverweigerer" unter den Abgeschobenen
Begleitet wurde die Abschiebung von 57 Beamten der Bundespolizei, einem Arzt, einem Dolmetscher und einem Frontex-Mitarbeiter. Unter den Abgeschobenen befanden sich nach Aussagen des Bundesinnenministeriums 13 Straftäter. Bei den acht aus Bayern abgeschobenen Afghanen handelt es sich nach Auskunft des bayrischen Innenministeriums um drei „rechtskräftig verurteilte Straftäter“ sowie um fünf „Mitwirkungsverweigerer“, die sich bei einer Identitätsfeststellung hartnäckig geweigert hätten. Einer der Straftäter sei wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Jugendhaftstrafe auf Bewährung von einem Jahr verurteilt worden, ein weiterer wegen sexuellen Missbrauchs zu eineinhalb Jahren Haft. Ein dritter „Intensivstraftäter“ wurde unter anderem wegen mehrfachen Diebstahls, Hausfriedenbruchs und Beleidigung verurteilt.
Ulla Jelpke, für die Linke im Bundestag, kritisierte die Bundesregierung: Eine Abschiebung in ein Kriegsgebiet dürfe einfach gar nicht in Frage kommen. "Da könnte man ja gleich mit den Leuten Russisch Roulette spielen", so Jelpke am Mittwoch auf Nachfrage. Straftaten müssten verfolgt und wenn nötig bestraft werden. Und zwar in Deutschland, wo sie begangen wurden. "Das muss unsere Justiz aushalten. Abschiebung als eine Sanktion für Straftaten zu nutzen, zeugt allerdings von einem Justizverständnis weit jenseits von Rechtsstaatlichkeit."
"Das ist Politik nach dem Sankt-Florians-Prinzip"
Unter den 19 Personen war auch ein als "Gefährder" eingestufter Mann aus Baden-Württemberg. Es habe eine "gewisse Brisanz", einen "Gefährder" abzuschieben, so Jelpke weiter. "Macht man das, weil so einer dort dann bessere terroristische Betätigungsmöglichkeiten hat? Das ist Politik nach dem Sankt-Florians-Prinzip." Also die Gefahrenlage auf andere zu verschieben, anstatt sie wirklich zu lösen. Außerdem beruhe eine Gefährdereinstufung auf der subjektiven Einschätzung einer Polizeibehörde und nicht auf einem bindenden Richterspruch.
Das Innenministerium in Schleswig-Holstein sagte dem Tagesspiegel, bei der vorliegenden schweren Straftat, dem sexuellen Missbrauch eines Kindes, überwiege das öffentliche Interesse an einer Abschiebung gegen das Interesse des Betroffenen gegen eine Rückkehr nach Afghanistan. "Wenn Betroffene durch ihr Verhalten die Öffentlichkeit gefährden oder schwere Straftaten begehen, muss der Staat seinem Schutzauftrag der Allgemeinheit gegenüber gerecht werden und den Schutz der hier lebenden Menschen sicherstellen", so ein Sprecher des Ministeriums. Wer in Deutschland verurteilt wurde, trage die Verantwortung für sein Handeln und sei damit für die daraus folgenden Konsequenzen verantwortlich. "Dies bedeutet für ausreisepflichtige Straftäter in letzter Konsequenz die Rückkehr ins Herkunftsland."
Auch ein behinderter Afghane abgeschoben
Immer wieder kritisiert werden die Abschiebungen von sogenannten Mitwirkungsverweigerern, die auch am Mittwoch an Bord waren. So wie Reza Hosaini. Wie der Evangelische Pressedienst (epd) berichtet, wurde auch der behinderte und traumatisierte 20-jährige Afghane abgeschoben. Seine Rechtsanwältin habe bis Dienstagabend vergeblich versucht, die Abschiebung juristisch zu verhindern. Der 20-Jährige sei abgeschoben worden, weil er keine Papiere habe vorweisen können und nach Auffassung der Behörden nicht genügend an der Feststellung seiner Identität mitgewirkt habe. Nach Angaben seiner Unterstützer sei Reza Hosaini als Zehnjähriger nach einer Bombenexplosion in Afghanistan auf einem Auge erblindet und hat eine schwere Angststörung. Nachdem er zunächst in den Iran flüchtete, habe er heute in Afghanistan keine sozialen Kontakte, sagte seine Anwältin.
"Wer Menschen in Krieg, Verfolgung und Elend abschiebt, weil sie angeblich ihre Identität verschleiert haben, will diese Personen letztlich dafür bestrafen, dass sie Flüchtlinge sind", so Jelpke. "Es gibt schließlich gute Gründe, warum manche Flüchtlinge keine Ausweispapiere mit sich führen. Sie sind aus Bürgerkriegsländern ohne funktionierende Verwaltung geflohen, sie haben als Regimegegner keine Papiere erhalten oder diese auf der Flucht verloren." Auch Dünnwald vom Flüchtlingsrat sagt, die Ausländerbehörden würden bei der Definition von "Mitwirkungsverweigerern" nicht immer korrekt vorgehen, sondern Identitätsverweigerung eher "kreativ" behandeln. Das sei an zahlreichen Fällen zu sehen. Weitere Informationen dazu sind auf der Website des Flüchtlingsrats zu finden.
Ministerium erläutert die Abschiebung von "Identitätsverweigerern"
Auf mehrfache Nachfrage schickte das Bayerische Innenministerium eine Erläuterung zu den fünf wegen "hartnäckiger Identitätsverweigerung" Abgeschobenen. "Ein gültiger Nationalpass oder sonstige geeignete Identitätsnachweise wurden vom Ausländer jedoch nicht vorgelegt", heißt es zu den fünf Personen. Sie hätten sich kategorisch geweigert, einen afghanischen Reisepass auszufüllen und keine Identitätsdokumente vorweisen oder beschaffen können. Auch seien sie der Aufforderung, beim Generalkonsulat von Afghanistan vorzusprechen, nicht nachgekommen. Daher müssten sie nun zwangsweise zur Identitätsklärung dort vorgeführt werden. Einer von ihnen sprach zweimal beim Generalkonsulat vor.
"Beide Vorsprachen verliefen jedoch erfolglos, da er sich weigerte ein Reisedokument überhaupt zu beantragen", so der Sprecher. Einer der Abgeschobenen habe gegenüber der Ausländerbehörde erklärt, dass er sich außer Stande sehe an der Passbeschaffung mitzuwirken und habe widersprüchliche Angaben zum Besitz von Identitätsdokumenten beziehungsweise deren Verbleib gemacht. Die Betroffenen hätten mitgeteilt, Deutschland nicht freiwillig verlassen zu wollen. Die Entscheidung über die Asylgewährung liege beim Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Die Ausländerbehörden sind für die bei Verweigerung der freiwilligen Ausreise gesetzlich vorgeschriebene Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger Personen zuständig.
82.358 Asylanträge von Afghanen abgelehnt
Die Abgeschobenen wurden vor Ort den dortigen Behörden übergeben, die nun für deren weitere Betreuung und Behandlung zuständig seien. Die "Augsburger Allgemeine" sprach mit zwei jungen Männern, die ebenfalls später an Bord der Maschine saßen. Abdul Ali, 21, habe zweieinhalb Jahre seiner insgesamt vier Jahre in Deutschland im Gefängnis verbracht, weil er einen syrischen Flüchtling mit dem Messer angegriffen habe, sagte er. Er kommt aus der nordafghanischen Provinz Sar-e Pul. Der 28-jährige Mahdi Merschikari gab an, lange im Iran gelebt zu haben und in Afghanistan nicht zu wissen, wohin. Seine Familie stamme ursprünglich aus der schwer umkämpften südafghanischen Provinz Urusgan. Er werde wieder nach Deutschland zurückgehen, sagte er der Zeitung.
Das Bamf hat im Zeitraum von 2015 bis zum Jahreswechsel 82.358 Asylanträge von Afghanen abgelehnt. Weitere 15.290 Fälle endeten mit einer sonstigen Verfahrenserledigung - etwa weil der Antrag zurückgezogen wurde oder der Betroffene in ein anderes Land weiterreiste, wie die "Die Welt" berichtet. "Pro Asyl" und "Amnesty International" bestätigten auf Nachfrage diese Zahlen, sie gingen aus dem Asylgeschäftsbericht des Bamf hervor.