Politische Säuberungen in der Türkei: Coronavirus-Experte will türkischer Regierung helfen – doch er darf nicht
Nach dem Putschversuch gegen Erdogan wurden zehntausende Fachkräfte im Gesundheitswesen entlassen. Darunter auch der Coronavirus-Experte Mustafa Ulasli.
Der türkische Genforscher Mustafa Ulasli ist ein ausgewiesener Experte für das Coronavirus. Seit einem Jahrzehnt befasst sich der Wissenschaftler mit Coronaviren, hat zu dem Thema in Princeton geforscht, in Utrecht promoviert und international veröffentlicht. Ein Glücksfall sollte es für die Türkei sein, dass Ulasli vor zehn Jahren in seine Heimat zurückkehrte, um an der Universität Gaziantep zu forschen.
Doch statt in der Corona-Kommission der türkischen Regierung sitzt der Wissenschaftler zuhause, und das schon seit fast vier Jahren: Er wurde bei den politischen Säuberungen nach dem Putschversuch von 2016 entlassen. Angesichts steigender Infektionszahlen in der Türkei fordert die Opposition, den Experten zu rehabilitieren und in die Corona-Kommission zu berufen. Wegen der absehbaren Überlastung des Gesundheitswesens wird zudem die Forderung laut, auch die tausenden anderen Ärzte, Pfleger und Schwestern zurück zu holen, die bei den Säuberungen hinausgeworfen und geächtet wurden.
2017 wurden die Vorwürfe fallengelassen
„Ich dürfte der einzige Wissenschaftler in der Türkei sein, der zum Coronavirus promoviert hat“, appellierte der Genforscher per Twitter an das türkische Gesundheitsministerium. Es gebe wohl niemanden im Land, der so viel von dem Virus verstehe wie er. „Ist es nicht ein Verlust für die Menschheit, mich trotz gerichtlichen Freispruchs seit dreieinhalb Jahren im Abseits zu halten?“
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Ulasli war 2016 hinausgeworfen worden, weil er ein Konto bei einer Bank hatte, die zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen gehörte - dem früheren Bündnispartner und heutigen Erzfeind von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Obwohl die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe gegen den Wissenschaftler schon 2017 fallen ließ, wartet er - wie viele andere Säuberungsopfer - bisher vergeblich darauf, auf seinen Posten zurückkehren zu dürfen.
„Ich will an diesem Kampf teilnehmen“
Auch auf dem Abstellgleis hat Ulasli weiter über Coronaviren geforscht. Zuletzt veröffentlichte er im Januar eine Forschungsarbeit zu dem Thema in einem internationalen Journal für Virologie. Bei Ausbruch der Corona-Krise habe er der Regierungskommission geschrieben und seine Expertise angeboten, sagte er der türkischen Presse – doch er habe keine Antwort bekommen. Die Türkei verzeichnet derzeit nach offiziellen Angaben rund 2400 Corona-Fälle und 59 Todesopfer. Die Regierung will zur Bekämpfung des Virus die Tests im Land ausweiten.
„Ich will an diesem Kampf teilnehmen“, sagte Genforscher Ulasli. „Ob ich meinen Posten zurückbekomme oder nicht, das ist unwichtig. Ich will mein Wissen in den Dienst der Menschheit stellen.“ Nach wachsender Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit schaltete sich der Oppositionsabgeordnete Ömer Faruk Gergerlioglu ein und intervenierte bei Gesundheitsminister Fahrettin Koca für den Wissenschaftler. Koca habe zugesagt, sich bei Ulasli zu melden, teilte Gergerlioglu letzte Woche mit, doch bis Donnerstag hatte Ulasli noch nichts von ihm gehört.
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Gergerlioglu sprach den Minister auch auf die tausenden Fachkräfte im Gesundheitswesen an, die bei den politischen Säuberungen entlassen wurden und bei der Pandemie nun in Krankenhäusern und Kliniken fehlen. Auf rund 15.000 schätzt der Abgeordnete die Zahl der Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, die seit Juli 2016 als politisch verdächtig entlassen wurden. Koca habe ihm zugesagt, die Säuberungsopfer bei der Bekämpfung der Pandemie einzusetzen, sagte Gergerlioglu vor der Presse; von einer dauerhaften Rückkehr auf ihre Arbeitsplätze habe der Minister allerdings nichts gesagt.
Bis zu 20.000 entlassene Fachkräfte im Gesundheitswesen
Der Arzt und Oppositionsabgeordnete Habip Eksik, der dem Gesundheitsausschuss des türkischen Parlaments angehört, beziffert die Zahl der seit 2016 aus politischen Gründen entlassenen Fachkräfte im Gesundheitswesen sogar auf rund 20.000. Als Mitglied der Kurdenpartei HDP ist Eksik selbst Opfer der politischen Säuberungen; er wurde 2016 als politisch unzuverlässig aus dem öffentlichen Gesundheitswesen ausgeschlossen.
Rund 80 Prozent der Säuberungsopfer seien längst von den Gerichten entlastet worden, sagte Eksik der Zeitung „Evrensel“. Sie müssten nun sofort wieder eingestellt werden, forderte er. Dieser Forderung schloss sich auch Kemal Kilicdaraoglu an, der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP.