Coronakrise in der Türkei: Ankara verhängt Gebetsstopp in Moscheen
Drastische Maßnahme für eine religiöse Gesellschaft: Das Freitagsgebet und andere Zusammenkünfte in mehr als 80.000 Gotteshäusern sind untersagt.
Mehr als 60.000 Gläubige fasst die riesige Camlica-Moschee in Istanbul, die auf einem Hügel über dem Bosporus thront und vom ganzen Stadtgebiet aus zu sehen ist.
Doch jetzt, nicht einmal ein Jahr nach der Einweihung, wird der Mega-Bau mit seinem Parkhaus für 3500 Autos bis auf Weiteres verwaist bleiben: Die türkische Regierung stoppt im Kampf gegen das Coronavirus die Freitagsgebete und alle anderen Zusammenkünfte in den mehr als 80.000 Moscheen des Landes.
Der am Montag verkündete Gebets-Stopp ist die bisher drastischste Maßnahme in der Türkei – jeder zweite Bürger nimmt laut Umfragen mindestens am wöchentlichen Freitagsgebet teil, 40 Prozent aller Türken gehen täglich in die Moschee. Für individuelle Gebete bleiben die Moscheen geöffnet, betonte Ali Erbas, der Chef der staatlichen Religionsbehörde.
Zu Hause beten, um Infektionen zu vermeiden
Bis auf Weiteres gibt es aber keine Vorbeter und keine Freitagspredigten mehr. Die Muezzine verkünden zwar von den Lautsprechern der Minarette aus nach wie vor die fünf täglichen Gebetszeiten – doch die Gläubigen sollen ab sofort zu Hause beten, um neue Infektionen mit dem Virus zu vermeiden.
Erbas‘ Anordnung verändert den Alltag vieler Türken mindestens ebenso tief greifend wie die Schließung von Schulen und Universitäten, die am Montag in Kraft traten.
Moscheen sind für viele Türken weit mehr als nur Gotteshäuser – sie sind auch wichtige soziale Treffpunkte, in denen Bekanntschaften gepflegt und Neuigkeiten ausgetauscht werden.
Präsident Recep Tayyip Erdogan, ein frommer Muslim, nutzt das Freitagsgebet häufig für politische Stellungnahmen.
Kritiker hatten Erdogans islamisch verwurzelter Regierungspartei AKP in den vergangenen Tagen vorgeworfen, in der Corona-Krise mit zweierlei Maß zu messen, weil sie Fußballspiele in leeren Stadien austragen ließ, Massenversammlungen in den Moscheen aber weiter duldete.
Rund 15.000 Mekka-Pilger waren ohne Quarantäne aus Saudi-Arabien in die Türkei zurückgekehrt; lediglich bei den letzten 5000 Rückkehrern ordneten die Behörden nach öffentlichen Protesten eine 14-tägige Unterbringung in Wohnheimen an.
Flugverbindungen nach Westen unterbrochen
Die Coronakrise hat alle Lebensbereiche der Türkei erfasst. Die Istanbuler Justiz setzt nur noch Prozesse fort, bei denen die Beschuldigten in Untersuchungshaft sitzen – alle anderen Verfahren werden um mindestens einen Monat vertagt.
Bars und Diskotheken wurden bis auf Weiteres geschlossen, die Flugverbindungen nach Westeuropa sind unterbrochen.
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Bundesbürger, Österreicher und Bürger aus sieben anderen europäischen Ländern konnten noch bis Sonntag aus der Türkei in ihre Heimat zurückkehren, jetzt läuft die Zeit auch für Türken in Deutschland ab.
Der türkische Botschafter in Berlin, Ali Kemal Aydin, sagte laut Medienberichten, an diesem Dienstag würden tausende Türken aus Deutschland in die Türkei fliegen. Die türkische Regierung hatte ihren Bürgern im Ausland vorige Woche den 17. März als letzte Frist für die Heimreise gesetzt. Die Rückkehrer müssen in Quarantäne. Nach offiziellen Angaben zählt die Türkei bisher lediglich 18 Corona-Infektionen und keine Todesfälle. Es herrschen aber erhebliche Zweifel an den Zahlen. Der Vorsitzende der türkischen Ärztekammer, Sinan Adiyaman, berichtete im Fernsehsender Tele1, es gebe sehr viel mehr Fälle als offiziell zugegeben.
In einer türkischen Großstadt sei die Zahl der Infektionen „explodiert“, doch die Regierung halte die tatsächliche Zahl der Ansteckungen geheim. Welche Stadt er meinte, sagte Adiyaman nicht.