Scharfe Kritik von Grünen-Politiker Özdemir: 180 mutmaßliche Gülen-Anhänger in der Türkei festgenommen
Massenfestnahmen wollen in der Türkei nicht enden. Laut Cem Özdemir dürfe die Bundesregierung vor dem Einsatz wirtschaftlichen Drucks nicht zurückschrecken.
In den Morgennachrichten erfuhren die Türken am Dienstag, dass die Behörden schon wieder Jagd auf angebliche Regierungsfeinde machen. Die Polizei nahm 180 Menschen wegen angeblicher Verbindungen zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen fest.
Die nicht enden wollende Welle von Massenfestnahmen und die Einschränkungen von Versammlungs- und Meinungsfreiheit haben aus der Türkei eine „Republik der Angst“ gemacht, sagt der Parlamentsabegordnete Mustafa Yeneroglu, der die Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan verlassen hat. Doch nicht nur Normalbürger und Erdogan-Gegner haben Angst. Selbst Anhänger des Präsidenten fürchten sich inzwischen vor Verhaftung.
Zehntausende Menschen sind als angebliche Unterstützer von Gülen inhaftiert, der von der Regierung für den Putschversuch von 2016 verantwortlich gemacht wird. Oft reicht ein Konto bei einer Bank der Gülen-Bewegung oder eine anonyme Denunziation für eine Verurteilung aus. Die Festnahmen vom Dienstag richteten sich gegen Nutzer einer Mitteilungs-App, die bei der Gülen-Bewegung beliebt war.
Erdogans Regierung argumentiert, der Kampf gegen die Putschisten und die gleichzeitige Bedrohung durch Terrororganisationen wie die kurdische PKK oder den dschihadistischen Islamischen Staat erforderten radikale Maßnahmen. Da die Justiz größtenteils auf Regierungslinie gebracht worden ist, gibt es kaum Widerstand von Richtern oder Staatsanwälten.
Imperium Erdogan laut Özdemir im Zerfallsprozess
Der Grünen-Politiker Cem Özdemir hat die Verhaftungen scharf kritisiert. „Wer die Türkei kennt, weiß, dass die Grundlage für politische Verhaftungen nichts sein kann, was einer Überprüfung in einem normalen Rechtsstaat standhalten würde. Es ist pure Willkür und kann jederzeit jeden an jedem Ort in der Türkei treffen, dessen Meinung nicht der des alten Sultans von Ankara entspricht“, sagte Özdemir dem „Tagesspiegel“.
Die Verhaftungen sollten „einschüchtern und mundtot machen“, sagte er weiter. Doch die letzten Kommunalwahlen hätten gezeigt, dass das Imperium Erdogan im Zerfallsprozess sei. Offensichtlich wolle Erdogan bis zu seinem Abgang noch „möglichst viel Unglück anrichten“.
Von der Bundesregierung verlangte der Grünen-Politiker einen „realistischen Blick“ auf das Erdogan-Regime. „Der gesamte Koffer der Diplomatie muss zum Einsatz kommen, wenn Erdogan versucht, seine Einschüchterungspolitik auf Deutschland oder unsere Staatsbürger auszudehnen. Auch vor dem Einsatz wirtschaftlichen Drucks darf die Bundesregierung nicht zurückschrecken“, forderte der Bundestagsabgeordnete.
Seit Frühjahr wurden 30 neugewählte Bürgermeister abgesetzt
Der Anti-Terror-Kampf hat längst Züge einer Hexenjagd angenommen, bei der mutmaßliche Regierungskritiker zu Terroristen abgestempelt werden. Am Dienstag wurde ein Bürgermeister der linksnationalen Oppositionspartei CHP in Haft genommen, weil er mit Gülen kooperiert haben soll. Seit den Kommunalwahlen im Frühjahr hat das Innenministerium fast 30 neugewählte Bürgermeister der Kurdenpartei HDP wegen angeblicher Nähe zur PKK abgesetzt und durch regierungstreue Statthalter ersetzt.
Die Kritik am Demokratie-Abbau ist eine der wichtigsten Triebfedern für AKP-Dissidenten wie Yeneroglu. Er will sich einer neuen Partei des früheren Vizepremiers Ali Babacan anschließen, die in den kommenden Wochen als Reform-Alternative zur AKP gegründet werden soll.
Vorige Woche hatte der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu bereits seine „Zukunftspartei“ gegründet, die als neue islamisch-konservative Kraft antritt. Der Journalist und langjährige AKP-Kenner Rusen Cakir erwartet einen weiteren Niedergang der Regierungspartei, die schon jetzt keine eigene Mehrheit im Parlament hat und auf die Zusammenarbeit mit den Nationalisten angewiesen ist.
Bei ihrem Regierungsantritt im Jahr 2002 habe sich die AKP den Kampf gegen das Unrecht auf die Fahne geschrieben, sagte Yeneroglu in einem Interview des Journalisten Rusen Cakir im Internet-Fernsehkanal Medyascope. Doch inzwischen sei das Land unter der AKP zur „Republik der Angst“ geworden. In der Türkei werde wieder gefoltert.
Sollte Erdogan seine Macht verlieren, dann „landen wir alle vor dem Richter“
Vergehen der Sicherheitskräfte würden nicht geahndet. „Versammlungsfreiheit und Presse- und Meinungsfreiheit gibt es nicht mehr.“ Yeneroglu sieht in dieser Entwicklung ein historisches Versagen des politischen Islam in der Türkei. Die neuen Parteien müssten diese Vergangenheit aufarbeiten, um aus den Fehlern lernen zu können.
Die Aufbruchstimmung bei Erdogan-Gegnern aus den Reihen der AKP lässt hartgesottene Anhänger des Präsidenten erschauern. Sie befürchten, dass sie im Falle eines Regierungswechsels in Ankara zur Rechenschaft gezogen werden. Sollte Erdogan seine Macht verlieren, „dann landen wir alle vor dem Richter“, sagte der regierungsnahe Journalist Cem Kücük in einer Talkrunde im Fernsehsender Beyaz TV.
Erdogan selbst werde möglicherweise nicht sofort vor Gericht gestellt – „aber sie werden in seinem Umfeld anfangen. Wer wird mich und dich dann retten?“ fragte Kücük den ehemaligen AKP-Abgeordneten Mehmet Metiner, der ebenfalls an der Talksendung teilnahm.
Selbst eine Flucht ins Ausland wäre in diesem Fall keine Alternative, ist Kücük sicher. „Ich kann Englisch, ich könnte also nach London gehen. Aber die würden mich sofort an die Türkei ausliefern.“ Metiner entgegnete, er könne nicht einmal eine Fremdsprache. „Mach‘ mir keine Angst, ich fürchte mich auch so schon genug.“
Susanne Güsten, Cordula Eubel