„Er desavouiert das Parlament“: CDU kritisiert Scholz, weil er nicht in die Ukraine will
Drei Monate nach Kriegsbeginn reist Kanzler Scholz noch immer nicht nach Kiew, weil er keinen „Fototermin“ wolle. Nicht nur von der Opposition kommt Kritik.
Der Bundeskanzler will seine Meinung nicht ändern. „Ich stehe für ernsthafte Politik“, sagt Olaf Scholz am Montagabend in einem RTL-Talk, bei dem er auf vier Bürgerinnen und Bürger trifft. Soeben hat ihn eine Ukrainerin gefragt, warum er fast drei Monaten nach Beginn des russischen Angriffskrieges noch immer nicht nach Kiew gefahren ist. „Es muss bei einem Besuch vor Ort darauf ankommen, dass konkret etwas vorangebracht wird und darf nicht nur ein Fototermin sein“, sagt Scholz. Er habe oft mit dem ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj telefoniert. „Zehn oder elf Stunden“, verteidigt sich der SPD-Politiker.
Da grätscht ihm ein Finanzdienstleister dazwischen. „Es kann doch nicht sein, dass sie als Bundeskanzler die Symbolik dieser Bilder unterschätzen“, sagt er. Scholz müsse „schleunigst“ nach Kiew. Scholz hält dagegen: „Ich werde mich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus und einen Fototermin was machen.“
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Seit Wochen sind die Reisepläne der Bundesregierung ein Politikum. Nachdem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ausgeladen wurde, wollte Scholz nicht mehr. Auch in der Ampel-Koalition hält man die Performance des Kanzlers hinter vorgehaltener Hand für unglücklich. Nach einem klärenden Gespräch zwischen Steinmeier und Selenskyj reiste in der vergangenen Woche immerhin Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nach Kiew – lange nachdem hohe Repräsentanten anderer EU-Länder und der USA dort waren.
Im politischen Berlin wird die Kritik an Scholz lauter. Roderich Kiesewetter redet sich am Telefon richtig in Rage. Der Außen- und Sicherheitspolitiker der CDU, der parteiübergreifend anerkannt ist, äußert sich enttäuscht über den Bundeskanzler: „Er desavouiert das Parlament und die Abgeordneten wie auch die Außenministerin, die bereits in der Ukraine waren“. Das Ansehen Deutschlands in Osteuropa verbessere Scholz so nicht, sagt Kiesewetter, der mit CDU-Chef Friedrich Merz vor zwei Wochen in Kiew war.
Kiesewetter: "Scholz könnte ja konkret etwas tun"
„Aus den zwölf Stunden vor Ort ziehe ich extrem wichtige Erkenntnisse für meine Arbeit“, sagt Kiesewetter. Er habe den Verteidigungs- und Wiederaufbauwillen der Ukrainer unterschätzt und das erst nach den Besuchen in Irpin und Kiew verstanden.
Auch, dass Selenskyj von fast allen Parteien gestützt werde, sei ihm vor seinem Besuch nicht klar gewesen. Das Argument, Scholz wolle erst nach Kiew reisen, wenn er etwas konkretes zu verkünden habe, hält Kieswetter für irreführend. „Scholz könnte ja konkret etwas tun, aber er hat nicht den Willen, eine klare Position zu beziehen“, kritisiert Kiesewetter.
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So könnte der Bundeskanzler den Ringtausch von T72-Panzern über Polen vorantreiben oder sich in Kiew ernsthaft mit den Sicherheitsinteressen der Ukraine befassen. „Als Präsident der G7 und Regierungschef des relevantesten EU-Landes, könnte Scholz in Kiew auch konkret über die EU–Beitrittsbemühungen der Ukraine sprechen“, schlägt Kiesewetter vor.
Er wirft Scholz vor, die Lage weiterhin falsch einzuschätzen: „Er scheint zu denken, dass man mit Russland nach dem Krieg wieder an einen Tisch sitzen könne.“
Grüne üben sich in Diplomatie
Bei den Grünen, die sich seit Wochen vehement für schwere Waffen für die Ukraine aussprechen, übt man sich am Dienstag in Diplomatie. „Es war ein sehr wichtiges Signal, dass Außenminister Annalena Baerbock in der Ukraine war und sich ein Bild von der Lage vor Ort gemacht hat“, sagt die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Britta Haßelmann.
Baerbock habe sich vor Ort auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko getroffen. Dies sei symbolisch ein sehr wichtiger Besuch gewesen, habe auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba bei seinem Berlin-Besuch in der vergangenen Woche bestätigt, sagte Haßelmann. Es ist eine Kritik über Bande. Zu Scholz sagt sie nichts. Felix Hackenbruch