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Im Zweifel kämpferisch: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
© Uncredited/Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa

Steinmeier in Kiew nicht willkommen: Selenskyj schwächt die Solidarität der Deutschen mit der Ukraine

Der Krieg verändert die moralischen Gewichte in Europa: Statt Polen steht Deutschland im Zentrum der Kritik. Doch Selenskyj begeht einen Fehler. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Im Schatten des Kriegs verschieben sich die politischen und moralischen Gewichte in Europa. Die bedrohlichen Bilder aus der Ukraine verändern den Blick auf die Vergangenheit und die Prioritäten der Gegenwart.

Frank-Walter Steinmeiers Besuch in Warschau macht es unübersehbar. Vor dem Krieg galt Polen als Sorgenfall. Jetzt steht Deutschland in der Kritik.

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Der wirtschaftliche Riese in Europas Mitte gilt als Bremser bei der Eindämmung Russlands. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will Steinmeier nicht in Kiew empfangen. Was für ein harter Rollentausch. Über Jahre wollten Deutsche, Franzosen und Luxemburger ihre Standards von Demokratie, Rechtsstaat und offenem Umgang mit Flüchtlingen im Osten der EU durchsetzen.

Steinmeier gesteht Fehler ein, Duda wird gelobt

So berechtigt die Kritik an Polens nationalpopulistischer Regierung war: Der Ton klang für polnische, aber auch andere Ohren oft überheblich.

Zudem scheiterten alle Versuche der Maßregelung. Die Instrumente der EU sind stumpf. Und die Zahl der Staaten, die Europas Werte verletzen, wächst im Westen wie im Osten.

Rollenwechsel: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Besuch beim polnischen Kollegen Andrzej Duda. Der wollte ihn mit nach Kiew nehmen. Doch die Ukraine lehnt ab. In den Vorjahren hatte umgekehrt Steinmeier für mehr Verständnis für Polen geworben.
Rollenwechsel: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Besuch beim polnischen Kollegen Andrzej Duda. Der wollte ihn mit nach Kiew nehmen. Doch die Ukraine lehnt ab. In den Vorjahren hatte umgekehrt Steinmeier für mehr Verständnis für Polen geworben.
© Jens Büttner/dpa

In Warschau traf nun ein Bundespräsident, der schwere Fehler der deutschen Russlandpolitik eingesteht, einen Andrzej Duda, dessen Land bewundert wird, weil es Millionen Ukrainer aufgenommen hat. Aus der gemeinsamen Weiterreise nach Kiew wurde jedoch nichts. Duda ist dort willkommen, Steinmeier nicht.

Irrtümer bekennen: ein Systemvorteil der Demokratie

Er ist Teil der politischen Elite in Berlin, die Wladimir Putins Kriegswillen unterschätzt und die Warnungen vor übergroßer Abhängigkeit von russischer Energie ignoriert hat. Lösen nun Polen, Balten und andere Osteuropäer die Deutschen auf dem hohen Ross ab? Sie haben gewarnt und Recht behalten.

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Der Umgang mit diesem Rollenwechsel erfordert Fingerspitzengefühl. Irrtümer einzugestehen, gehört zu den Systemvorteilen der Demokratie gegenüber autokratischen Systeme. Denn erst diese Bereitschaft öffnet den Weg zur Korrektur.

Daraus ergibt sich eine Asymmetrie im Umgang mit PiS-Polen und Viktor Orbáns Ungarn. Sie denken nicht daran, Fehler zu bekennen und zu korrigieren.

Selenskyj schwächt die Solidarität der Deutschen mit der Ukraine

Und: Ist Selenskyj klug beraten, Steinmeier die Tür zu weisen - dem Staatsoberhaupt, das zu scharfer Selbstkritik bereit war? Das werden einige Bürgerinnen und Bürger womöglich als undankbar empfinden angesichts der generellen Hilfsbereitschaft. Selenskyj könnte ungewollt die Solidarität der Deutschen mit der Ukraine schwächen.

Das macht die Herausforderung umso größer. Die Realpolitik erfordert jetzt mehr noch als zuvor, Europa zusammenzuhalten. Frankreich rückt weiter nach rechts. Polen darf auf mehr Verständnis rechnen.

Die Verfahren gegen Ungarn werden Monate dauern und womöglich ohne signifikante Strafen enden. Deutschland muss sich auf eine dauerhafte Veränderung der Druckverhältnisse in der EU einstellen.

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