Konflikt in Tigray: Berichte über Gräueltaten des äthiopischen Militärs
Immer neue Gräueltaten werden aus der äthiopischen Provinz Tigray bekannt – begangen auch von Regierungstruppen. Die Brutalität stärkt längst die Rebellen.
Aus der äthiopischen Tigray-Provinz werden immer scheußlichere Gräueltaten gemeldet. Nun steht fest, dass neben eritreischen Soldaten auch äthiopische Regierungstruppen wehrlose Menschen töteten: So strahlten BBC und CNN ein Video aus, das zeigt, wie äthiopische Soldaten zwölf unbewaffneten jungen Männer nahe dem Dorf Mahibere Dego das Leben nehmen. Ein Unteroffizier fordert die Soldaten auf, an den Opfern keine Munition zu verschwenden. Nach je einem Schuss pro Mann werfen sie die Körper über ein Felsenkliff in den Abgrund.
Unterdessen werden aus dem Westen der Provinz zahlreiche Fälle von „ethnischen Säuberungen“ bekannt. Tausende Menschen würden mit Lastwagen aus ihren Dörfern abtransportiert, in denen dann Amharer siedeln, wie in den Sudan geflohene Tigrayer berichten. Die Ernten der einheimischen Landwirte würden gestohlen oder verbrannt. Nach UN-Angaben sind in Tigray 4,5 Millionen Menschen, drei Viertel der Bevölkerung, vom Hungertod bedroht.
Ein Team der belgischen Universität Ghent will die Namen von fast 2000 Menschen ermittelt haben, die bei mehr als 150 Massakern getötet worden seien. Die Verantwortung für die Verbrechen schreibt der schon seit Jahrzehnten in Tigray forschende belgische Geografie-Professor Jan Nyssen vor allem den eritreischen und äthiopischen Soldaten zu.
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Allein in sein Krankenhaus würden täglich mehrere vergewaltigte Frauen eingeliefert, sagt ein Arzt des Ayder-Hospitals in der Provinzhauptstadt Mekele: Manche von ihnen seien von Soldaten in deren Lager verschleppt und dort tagelang von mehreren Männern missbraucht worden. „Gibt es Worte, die das beschreiben können?“, fragt eine Hebamme, der die Flucht in den Sudan gelang. Andere sprechen wie der Arzt Tedros Tefera von „Völkermord“.
Als "ordnungspolitische Strafaktion" heruntergespielt
Monatelang hatte Äthiopiens Regierungschef Abiy Ahmed den Truppeneinmarsch in Tigray als „ordnungspolitische Strafaktion“ gegen die Führung Tigrays heruntergespielt: Sie habe „keinem einzigen Zivilisten“ das Leben gekostet. Nach einem fünfstündigen Gespräch mit dem US-Senator Chris Coons in Addis Abeba räumte der Premierminister jüngst jedoch ein, dass es in der Provinz auch zu „Grausamkeiten“ gekommen sei. Erstmals bestätigte Abiy auch die Präsenz eritreischer Soldaten in Tigray, die er zuvor monatelang bestritten hatte. Die Eritreer zögen schon in Kürze wieder ab, versicherte der 44-jährige Friedensnobelpreisträger nach einem Kurzbesuch in der eritreischen Hauptstadt Asmara. Fachleute trauen dem Versprechen allerdings nicht.
Entgegen den Beteuerungen in Addis Abeba ist der Widerstand der Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF) nämlich keineswegs gebrochen. Als äthiopische und eritreische Regierungsgruppen – auch mit Unterstützung von Gefechtsdrohnen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) – die Provinz im vergangenen November überraschend schnell in drei Wochen überrannt hatten, zogen sich die TPLF-Kämpfer in die bergigen Regionen ihrer Heimat zurück: Von dort führen sie nun einen Guerillakrieg gegen die Invasoren. Überraschend erfolgreich, heißt es in Tigray: Bislang sei kein einziger Rebell den Regierungstruppen in die Hände gefallen.
Die Rebellen werden gestärkt
Um Nachwuchs muss sich die Tigray Defence Force (TDF) ohnehin keine Sorgen machen: Die Grausamkeiten der Besatzungstruppen treibt offenbar immer mehr junge Männer in die Arme der Rebellen. „Wir werden sie wohl kaum in den kommenden drei Monaten ausschalten können“, räumte Abiy jetzt ein, nachdem er seinen Feldzug bereits Ende November für erfolgreich beendet erklärt hatte.
Mit einem Abzug der Eritreer sei deshalb kaum zu rechnen, meint William Davison von der Internationalen Krisengruppe (ICG): Ohne die militärische Hilfe aus dem Nachbarland könne Abiy die Provinz nicht unter seine Kontrolle bringen. Äthiopiens Streitkräfte sind ohnehin überstrapaziert: Sie sind in Somalia stationiert, werden regelmäßig gegen oromische Nationalisten eingesetzt. Doch vor allem könnte es im Westen des Landes bald zu einem Krieg mit dem Nachbarn Sudan kommen: Der Streit um Grenzverläufe sowie um das Auffüllen des riesigen äthiopischen Nil-Staudamms eskaliert immer mehr. Vergangene Woche scheiterte eine weitere Verhandlungsrunde.
Abiy muss nun zudem verhindern, dass die bereits im vergangenen Jahr wegen der Corona-Pandemie auf Anfang Juni verschobenen Wahlen erneut nicht stattfinden können. Der Regierungschef würde in diesem Fall vollends seine Legitimität verlieren. Ob er die Schicksalswahl überhaupt gewinnen kann, wird bezweifelt: Seine neu gegründete unitarische „Wohlstandpartei“ sei unter den zahllosen Föderalisten oder gar „ethnischen Nationalisten“ des Landes viel zu unbeliebt. Auch die Tigrayer kann der Regierungschef als Verbündete nun vergessen: Nach den grausamen Ereignissen der vergangenen Wochen werden in der Provinz vielmehr Rufe nach Sezession laut.
Johannes Dieterich
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