Bedrohte Altertümer: Äthiopiens Kulturerbe ist in Gefahr
Militärische Konflikte, ausbleibender Kultur-Tourismus und eine gefährliche Geschichtspolitik bedrohen historische Orte und ihre Bewohner im Norden Äthiopiens.
Die eigentliche Größe des Ortes offenbart sich nicht sofort, wenn man zur Besichtigung der spektakulären Ruinen in der kleinen Stadt Aksum im nördlichen Äthiopien eintrifft. Besucher der Unesco-Welterbestätte beginnen ihren Rundgang meist bei dem großen Stelenfeld, auf dem zahlreiche monolithische Obelisken aus Stein stehen. Auf dem Boden liegen die imposanten Bruchstücke des mit 33 Metern ehemals höchsten Obelisken, der bereits vor einigen hundert Jahren umgestürzt ist.
Einer der Obelisken wurde 1937, in der Zeit der kolonialen Besatzung durch Italien, nach Rom gebracht. Seine Rückgabe 2005, durch die Vermittlung der Unesco, war einer der ersten Fälle der Restitution von geraubtem afrikanischem Kulturerbe. Viele weitere Gebäude und unterirdische Anlagen, vor allem Grabkammern, sind über das heutige Stadtgebiet verteilt.
Die meisten dieser Ruinen stammen aus dem antiken aksumitischen Königreich, das seine Blütezeit vom dritten bis zum sechsten Jahrhundert n. Chr. hatte.
[Lesen Sie hier das Interview mit Chris Melzer vom UN-Flüchtlingshilfswerk über die Not des militärischen Konflikts in Äthiopiens Norden]
Das Königreich von Aksum
In dieser Zeit entwickelte sich die Stadt durch Handel und politische Beziehungen in den Mittelmeerraum, zur arabischen Halbinsel und nach Südwestasien zu einem wichtigen wirtschaftlichen und religiösen Zentrum. Einige Überreste in Aksum sind jedoch deutlich älteren Datums, der lokalen Überlieferung nach handelt es sich dabei um den Palast der sagenhaften Königin von Saba.
Der gemeinsame Sohn der Königin mit dem biblischen König Salomo, Menelik, gilt in der äthiopischen Geschichtsschreibung seit dem 14. Jahrhundert als der Begründer des äthiopischen Christentums und der königlichen, später kaiserlichen Herrscherdynastie. Auch wenn der Tourismus heute für viele Bewohner der Stadt die wichtigste Einnahmequelle darstellt – die Ruinen sind dem Druck durch ein stetig wachsendes städtisches Gebiet ausgesetzt, das noch nicht erschlossene oder von Erosion wieder verdeckte Grabungsstätten überzieht, wie der Archäologe Hiluf Woldeyohannes 2015 in seiner Doktorarbeit feststellte.
Trotz der sensationellen Qualität der zu erwartenden Funde gibt es, mangels Finanzierungsquellen, keine kontinuierlichen Ausgrabungen, sondern immer nur punktuell durch ausländische Teams finanzierte Forschungen. Eine ordentliche Absicherung und Abgrenzung der Grabungsstätten findet deshalb kaum statt.
Konkurrenz zwischen Christen und Touristen
Ein Masterplan für eine nachhaltige Entwicklung der Stätte, die auch lokale Interessen und die touristische Nutzung berücksichtigt, wie er von der Unesco gefordert wird, befindet sich zwar in Vorbereitung, ist aber noch nicht umgesetzt. Auch das örtliche Museum ist bislang nur sehr spärlich ausgestattet.
Mit der äthiopisch-orthodoxen Kirche gibt es jedoch noch einen weitaus wichtigeren Konkurrenten um den Platz im Stadtgebiet. Während internationale Touristen vor allem wegen der antiken Ruinen nach Aksum kommen, ist die Stadt für äthiopische Christen der wichtigste Pilgerort. In der Maryam Tseon Kirche, deren Fundamente aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. stammen, wird in einer kleinen Kapelle das wichtigste Heiligtum der äthiopisch-orthodoxen Kirche aufbewahrt: die Bundeslade mit den Tafeln der zehn Gebote. Sie wird streng vor den Augen der Öffentlichkeit abgeschirmt und von einem Priester bewacht, der diese Aufgabe lebenslänglich ausübt.
Ethnische Konfikte
Gegenwärtig ist allerdings weder an Reisen noch Forschungen in der Region zu denken. Das nördliche Äthiopien wird von militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) und der Zentralregierung Äthiopiens erschüttert, die bislang nicht befriedet sind. Seit Monaten nehmen gewaltsame Auseinandersetzungen und Proteste verschiedener ethnischer Gruppierungen zu.
Das genaue Ausmaß der aktuellen Krise lässt sich jedoch zum jetzigen Zeitpunkt schwer abschätzen. Zuverlässige Berichte aus der Region gibt es kaum, auch wegen einer Kommunikations- und Internetsperre die über die Region verhängt wurde. Zuletzt wurde von Regierungsseite berichtet, dass sich die Truppen der TPLF auf dem Rückzug befänden, von unabhängigen Quellen bestätigt werden konnte dies jedoch noch nicht.
Welterbestätten unter Beschuss
Ein wenig beachtetes, aber wichtiges Detail kommt in der aktuellen Situation wenig zur Sprache: Die Bundesstaaten Tigray und Amhara, die im Zentrum des Konflikts stehen, verfügen über die am besten erschlossensten bauhistorischen und archäologischen Ressourcen Äthiopiens – und damit über die attraktivsten touristischen Destinationen.
Die Tourismusbranche, die wie in vielen Ländern bereits durch Covid 19 starke Einbußen verkraften musste, sieht sich durch die aktuellen Ereignisse noch weiter bedroht. Wie in vielen Entwicklungsländern hat der Tourismussektor als Wirtschaftszweig in Äthiopien eine besondere Bedeutung als Devisenbringer.
Die Bemühungen, mehr internationale Touristen ins Land zu bringen, gehen bereits bis in die 1960er Jahre zurück, auch die Ernennung der ersten äthiopischen Unesco-Welterbestätten erfolgte 1978 im Rahmen eines Entwicklungshilfeprojektes, mit dem Kulturtourismus ermöglicht werden sollte. Heute verfügt Äthiopien über neun Welterbestätten, fünf davon im Norden des Landes.
Die Umsetzung von Restaurierungsmaßnahmen und der erhoffte Aufschwung des Tourismussektors scheiterte aber immer wieder an der fehlenden Infrastruktur, zu geringen Investitionen und der unwägbaren politischen Lage.
In den vergangenen zehn Jahren konnte der Tourismus zwar ein kontinuierliches jährliches Wachstum von über zehn Prozent verzeichnen. Er konzentriert sich aber immer noch auf einige wenige Gegenden, allen voran die Felskirchen von Lalibela, für deren Ausbau und Entwicklung immer wieder umfangreiche Fördergelder der internationalen Gemeinschaft und der EU bereitgestellt wurden.
Hinzu kommt, dass die Welterbestätten im äthiopischen Norden eine hohe symbolische Bedeutung für eine Geschichtspolitik haben, die den ideologischen Unterbau des aktuellen Konflikts darstellt. In dieser wird die Geschichte der christlichen Hochlandbewohner des Nordens als Zivilisationsgeschichte in einem ansonsten von „Stämmen“ bevölkerten Land inszeniert und zur allgemeinen Geschichte der Äthiopier auf dem heutigen Staatsgebiet erklärt.
Das historische Äthiopien ist allerdings nicht deckungsgleich mit den heutigen Staatsgrenzen. Vielmehr sollten durch den Verweis auf das jahrtausendealte aksumitische Königreich Ansprüche auf die seit Mitte des 19. Jahrhunderts eroberten Gebiete im Süden des Landes historisch legitimiert werden.
Während im Kaiserreich und im Sozialismus dazu vor allem auf eine einheitliche nationale äthiopische Identität verwiesen wurde, propagierte die Regierung unter der Koalition der EPRDF ab 1994 die Idee des multiethnischen Föderalismus.
Vision der Einheit hat sich nicht erfüllt
Die Vision einer nationalen Einheit des friedlichen Nebeneinanders jedoch hat sich nicht erfüllt. Die konstruierten ethnischen Nationalismen, verbunden mit konkurrierenden Gebiets- und Souveränitätsforderungen, haben stark an politischer Brisanz gewonnen und verlagern sich immer mehr in gewaltvolle Auseinandersetzungen.
Das Land wird mit einer fast hundertprozentigen Mehrheit von der TPLF regiert, der Partei, die in den 1980er Jahren als treibende Kraft für die Absetzung des sozialistischen Mengistu-Regimes gekämpft hat und die lange die führende Partei in der Regierungskoalition war. Seit dem Amtsantritt von Premierminister Ahmed Abiy wurde ihr Einfluss aber stark eingeschränkt.
Der manipulative Einsatz von historischen Narrativen und die Instrumentalisierung von ethnischen Zugehörigkeiten gehört in Äthiopien fest zum Arsenal der politischen Eliten, darauf haben der Jurist Shimelis Mulugeta Kene und der Bildungsexperte Solen Feyissa 2919 in einem viel beachteten Artikel in der Zeitung „Addis Standard“ hingewiesen.
Die Wirkung zeigt sich in einer immer stärker wachsenden Feindseligkeit zwischen Menschen, die sich auf Grund von Sprache, Herkunft oder Religion als Tigray, Amhara oder Oromo bezeichnen. Die sozialen Medien, durch die sich auch die Diaspora in die Auseinandersetzung einbringt, ist ein wichtiger Austragungsort des Konflikts. Die immer zahlreicheren Vorkommnisse ethnischer Massaker verdeutlichen die aufgeheizte Stimmung und die politische Reichweite indes auf tragische Weise.
Verfolgt man die Debatten einer jungen Generation äthiopischer Politikwissenschaftler in den sozialen Medien – wie die Diskussionsveranstaltung mit Eleni Centime Zeleke (Columbia University) oder den Twitteraccount von Biruk Tereffe (University of Oxford) – so wird klar: Die aktuelle Situation stellt letztlich die Eskalation einer langjährigen Entwicklung dar, bei der wirtschaftliche Interessen ebenso wie Grundsatzfragen der politischen und gesellschaftlichen Organisation des Landes verhandelt werden. Optimistisch präsentierte Lösungsvorschläge scheitern dabei immer wieder an der komplexen Realität.
Fliegerbomben und Artillerie
Nach der Ermordung des bekannten Oromo-Musikers Hachalu Hundessa im Juni dieses Jahres kam es nicht nur zu Protesten in Äthiopien, sondern auch zum Sturz einer Büste des Kaisers Haile Selassie in London. Denkbar ist es also, dass in Zukunft auch andere historische Stätten zu Angriffszielen in den Auseinandersetzungen und Protesten werden.
Da in der neuesten Auseinandersetzung erstmals auch Fliegerbomben und schwere Artillerie zum Einsatz kommen, sind schon deshalb Kollateralschäden an Welterbestätten und anderen wichtigen Altertümern nicht mehr auszuschließen. Nach dem Aufheben der Kommunikationssperre über Tigray steht zu hoffen, dass bald genauere Berichte über den aktuellen Zustand der Kulturdenkmäler und Museen in Aksum und anderen Orten in Tigray, wie etwa Mekelle, Gheralta und Wukro vorliegen.
Die Autorin ist Historikerin, Stadtforscherin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität. Soeben ist ihr Buch „Developing Heritage – Developing Countries: Ethiopian Nation Building and the Origins of UNESCO World Heritage, 1960-1980“ beim De Gruyter Verlag in der Reihe „Africa in Global History“ erschienen.
Marie Huber
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