Annalena Baerbock will Grünen-Chefin werden: "Auch eine weibliche Doppelspitze wäre möglich"
Annalena Baerbock über ihre Kandidatur als Grünen-Vorsitzende - und die Vorteile einer Brandenburger Herkunft.
Frau Baerbock, Sie wollen Vorsitzende der Grünen werden. Was bringen Sie mit, was für Ihre Partei nützlich sein könnte?
Viel Leidenschaft für Debatten, die unter die Haut gehen. Radikal und staatstragend – das ist für mich kein Widerspruch, sondern unsere Stärke. Als Brandenburgerin bringe ich außerdem Sensibilität für die Herausforderungen in der Fläche mit, wo mancherorts jedes dritte Kind in Armut lebt und zivilgesellschaftliches Engagement noch mal ganz anders gefragt ist. Und nicht zuletzt habe ich in den letzten Jahren mit ganzem Herzen Klima- und Europapolitik gemacht und streite für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Was wäre Ihre erste Initiative als Grünen-Chefin?
Erst mal muss ich gewählt werden. Klar ist für mich aber: Ab Tag eins nach dem Parteitag muss unsere innerparteiliche Nabelschau angesichts des Aufschubs der Klimaziele und der unmenschlichen Entscheidung von Union und SPD beim Familiennachzug vorbei sein. Volle Kraft voraus. Wir sollten uns dabei aber nicht nur an der möglichen neuen großen Koalition abarbeiten, sondern selbst Impulse setzen. Das kann richtig gut werden, wenn wir unseren anstehenden innerparteilichen Programmprozess dafür nutzen. Unser letztes Grundsatzprogramm stammt aus dem Jahr 2002, seitdem hat sich die Welt stark verändert.
Verleitet eine Debatte über ein Grundsatzprogramm nicht zur Selbstbeschäftigung?
Nicht, wenn man sie gut führt. Arbeitet eine Schreibgruppe im Hinterzimmer monatelang im vorgefertigten Karo oder überraschen wir als progressive Reformpartei? Darum geht’s. Ich will, dass wir Grünen einen gesellschaftlichen Diskurs entfachen, Impulse, aber auch den Widerspruch suchen. Nicht nur mit Positionspapieren, sondern im direkten Gespräch vor Ort.
Mit welchen Themen wollen Sie sich beschäftigen?
Mit der sich verschärfenden Klimakrise ebenso wie mit sozialer Teilhabe. Mit der Frage, wie wir unsere liberale Gesellschaft verteidigen in Zeiten, in denen rechte Hetze salonfähig geworden ist und Frauenpolitik neu gefragt ist. Mit den Schattenseiten der Globalisierung. Und mit den Auswirkungen neuer autoritärer Regime auf das Friedensprojekt Europa und auf eine wertegeleitete Außenpolitik unter dem Dach der Vereinten Nationen. Und natürlich mit dem Zukunftsthema Digitalisierung, das krasserweise im Groko- Sondierungsergebnis als Nischenprojekt abgestempelt wird. Die Liste ließe sich fortsetzen. In einem Satz: Es geht um die Frage, wofür Grün im 21. Jahrhundert steht.
Was heißt das konkret, zum Beispiel bei der Digitalisierung?
Mich interessiert etwa, welche Rolle der Faktor Arbeit zukünftig noch in einer Gesellschaft hat, in der künstliche Intelligenz bedeutender wird. Was heißt das für unsere Sozialsysteme, die auf dem Faktor Arbeit basieren? Wenn immer weniger Arbeitnehmer einzahlen, wo entsteht dann noch die Wertschöpfung und müssen dann die Roboter nicht Steuern zahlen? Diese spannende Debatte würde ich gerne nicht nur in der Partei führen, sondern die Partei zum Ort der Debatte mit Gewerkschaften, Start-up-Unternehmern, Datenschützern, Konzernchefinnen, Sozialverbänden machen.
Sie bekommen Konkurrenz von der niedersächsischen Grünen-Politikerin Anja Piel. Wer hat die besseren Chancen?
Das wird der Parteitag zeigen. Ich freue mich, dass Anja antritt, wir schätzen uns sehr. Und es tut uns Grünen gut, wenn deutlich wird, dass wir mehrere starke Frauen haben – gerade in Zeiten, in denen wir zwar 100 Jahre Frauenwahlrecht feiern, gleichzeitig der Frauenanteil im Bundestag aber deutlich gesunken ist.
Piel will die Grünen wieder stärker nach links rücken und auf Themen wie Gerechtigkeit und Umverteilung setzen. Hat Ihre Partei da ein Defizit?
Wenn die Politik konservativer und rechter wird, müssen wir als Kraft der linken Mitte natürlich emanzipatorische und linke gesellschaftliche Errungenschaften hochhalten und ausbauen. Das alte Rechts-links-Schema allein hilft heute thematisch nur oft nicht mehr weiter, etwa in der Europapolitik. Da geht es um die Auseinandersetzung: proeuropäisch oder zurück zum Nationalstaat? Wir Grüne streiten vehement für ein gemeinsames und solidarisches Europa, das nicht nur von rechten Parteien in Europa, sondern erschreckenderweise auch von einigen Konservativen ebenso wie von Teilen der europäischen Linken unter Beschuss genommen wird.
Die Grünen sollten also nicht stärker aufs Soziale setzen?
Doch, gerade die soziale Frage stellt sich in Europa vehement. Nicht nur in den Ländern, die unter der Finanzkrise heftigst litten, sondern auch in Deutschland ist die Armutsgefährdungsquote in den letzten zehn Jahren gestiegen. Es fehlt uns Grünen beim Thema Gerechtigkeit aber aus meiner Sicht nicht so sehr an fundierter Programmatik, sondern dass unsere guten Konzepte auch mit Grün verknüpft werden. Bei der Bekämpfung von Kinderarmut können wir viel vorweisen, da hat die SPD in den Sondierungen zum Glück einiges übernommen. Bei der Pflege hingegen fiel sie traurigerweise meilenweit hinter das zurück, was wir Grüne in einer Regierung erreicht hätten. Da hätten sich die Pflegekräfte dank unseres Sofortprogramms Hoffnung auf 25000 zusätzliche Stellen im Krankenhaus und 40000 in der Altenpflege machen können. SPD und Union sprechen jetzt nur von 8000. Pflege ist aber mehr als satt, sauber, trocken.
Ist es eigentlich eine Schwäche, dass Sie aus einem so kleinen Landesverband kommen?
Klar haben wir auf dem Parteitag nur eine Handvoll Delegierte. Aber als jemand aus einem strukturschwächeren Bundesland bringe ich eine andere Sichtweise ein. Nicht nur in Brandenburg gibt es viele Orte, wo kein Bus mehr fährt, es keinen Arzt gibt und die nächste Grundschule ewig weit weg ist. Den Bewohnern fehlen dort oft auch Stätten der Begegnung – wie der frühere Konsum. Diese Menschen sind faktisch abgehängt. Manche dieser Orte sind aber auch Quellen für Innovation und gesellschaftliches Engagement.
Was meinen Sie konkret?
Ich hab in den letzten Jahren in Brandenburg zum Beispiel zahlreiche Flüchtlingsinitiativen besucht, um einfach Danke zu sagen. Etwa denen, die sich ehrenamtlich engagieren und den Deutschkurs für Flüchtlinge organisieren, weil der nächste 50 Kilometer weit weg wäre. Die spannendsten Besuch waren in den kleinsten Orten. Da habe ich etwa eine ältere Frau getroffen, die durch ihre syrische Patenfamilie zum ersten Mal eine Einschulungsfeier mitfeierte und sich nun auch aktiv in der Schule engagiert. Anderswo wurden durch solches Engagement die Dorfschule gerettet oder neue Busrouten organisiert. Ich schaue bei diesen Besuchen nicht nur, ob ich als Politikerin helfen kann, sondern komme auch auf neue Ideen.
Zurück zum Parteitag: Bisher wurden die Grünen-Doppelspitzen nicht nur mit Frau und Mann besetzt, sondern auch beide Flügel berücksichtigt. Wie wichtig ist das bei den Grünen noch?
Die Flügel gehören als Denkfabriken zu unserer Partei. Wir brauchen die Reibung, die dort entsteht, um gute Ideen zu entwickeln. Für mich sind sie aber nicht der Grund, Politik bei den Grünen zu machen. Ich trete als Vorsitzende für die Gesamtpartei an.
Würden Sie auch gegen den Kieler Umweltminister Robert Habeck antreten?
Ich kandidiere auf dem Frauenplatz. Aber natürlich wäre auch eine weibliche Doppelspitze möglich. Das ist ja das Spannende bei uns Grünen, dass man vor dem Parteitag nie so ganz weiß, was am Ende rauskommt.