Mögliche Grünen-Parteichefin Baerbock: Für ihre Töchter
Annalena Baerbock möchte Parteichefin der Grünen werden – obwohl sie weiß, was das privat bedeutet. Ein Portrait.
Die Betriebsräte buhen und pfeifen, doch Annalena Baerbock lässt sich nicht verunsichern. Vielleicht stehe gerade die künftige Grünen-Chefin vor ihnen, stellt der Moderator die junge Politikerin vor. Rund 500 Gewerkschafter der IG BCE haben sich im Kosmos, dem früheren DDR-Premierenkino auf der Berliner Karl-Marx-Allee, zur Konferenz versammelt. Von den Kohleausstiegsplänen der Grünen halten sie gar nichts, das machen sie der Bundestagsabgeordneten unmissverständlich klar. „Wer schützt eigentlich die Mehrheit vor einer aggressiven Minderheit“, ruft ein Betriebsrat aus dem Kraftwerk Jänschwalde.
Die Klimapolitikerin aus Brandenburg kennt solche Termine, sie ist regelmäßig im Braunkohlerevier in der Lausitz unterwegs. Erst neulich ist sie vom Unternehmen Leag von einer Feier ausgeladen worden mit der Begründung, sie vertrete unternehmensschädigende Positionen. Doch Baerbock lässt sich nicht provozieren. Auch den Betriebsräten im Kosmos erklärt sie, warum das Pariser Klimaabkommen den schrittweisen Kohleausstieg erforderlich mache und dass ihre Partei den Strukturwandel finanziell abfedern wolle. Mit geradem Rücken steht sie auf der Bühne und macht sich Notizen, auch wenn die Fragesteller mit ihren Angriffen persönlich werden. Einige klatschen immerhin am Ende.
Genauso furchtlos geht Annalena Baerbock, 36 Jahre alt, Mutter zweier Töchter, nun auch an ihre Kandidatur als Parteichefin heran, die sie am Sonntag bekannt gegeben hat. Bei den Grünen kratzt sie damit an Machtstrukturen: Ihre Bewerbung ist nicht vorher „ausklamüsert“ worden, wie sie selbst formuliert. Bisher waren die Doppelspitzen bei den Grünen immer sorgsam austariert: eine Frau, ein Mann, Realo und Linksgrün. Mit Baerbock und dem Kieler Umweltminister Robert Habeck melden nun zwei Vertreter der Realos Ambitionen an. Baerbock macht damit auch Parteichefin Simone Peter Konkurrenz, die selbst innerhalb ihres linken Flügels als glücklos gilt.
Doch mit Flügelkämpfen hat Baerbock ohnehin noch nie etwas anfangen können. Auch weil sie einem kleinen Landesverband angehört, in dem Flügelpolitik keine Rolle spielt. 2009 wurde Baerbock, die in Potsdam wohnt, Chefin der Brandenburger Grünen. Als diese den Sprung in den Landtag schafften, machte sie sich mit ihrem Co-Vorsitzenden daran, die Parteistrukturen aufzubauen und zu professionalisieren. Ihnen beiden war klar, dass so etwas nur im Team funktionieren würde. Genau das könnte nun auch ihre Chance sein. Bei den Jüngeren, die mit den ideologischen Schlachten der Grünen-Gründergeneration nichts mehr anfangen können, hat Baerbock viele Fans.
Aufgewachsen ist sie auf dem Dorf in Niedersachsen. Politisch interessiert war sie schon als Kind: Ihre Eltern nahmen sie in den 80ern mit zu Anti-Atomkraft-Demos, mit zehn Jahren begeisterte sie sich für Greenpeace, als Jugendliche wollte sie Kriegsreporterin werden. Parteipolitik war ihr damals fern, als Leistungssportlerin ging sie täglich zum Trampolinspringen. Baerbock studierte Politikwissenschaft, öffentliches Recht und Völkerrecht in Hamburg und an der London School of Economics. Zu den Grünen kam sie durch ein Praktikum bei der Europaparlamentarierin Elisabeth Schroedter, für die sie später in Potsdam und Brüssel arbeitete. Am 1. Mai 2004 war sie dabei, als der damalige Außenminister Joschka Fischer mit seinem polnischen Amtskollegen auf der Oder-Brücke zwischen Frankfurt und Slubice die EU-Osterweiterung feierte. „Das war der Moment, in dem ich dachte, Politik kann echt was bewegen“, sagt Baerbock. Sie selbst trat 2005 bei den Grünen ein, die sie seit 2013 im Bundestag vertritt.
Warum will sie es nun wissen?
Schon seit Längerem wird Baerbocks Name genannt, wenn es um höhere Posten geht. Trotzdem hat sie lange gerungen, ob sie sich als Parteichefin bewerben soll. Warum will sie es nun wissen?
Zwei Tage bevor sie ihre Kandidatur bekannt gibt, sitzt die Grünen-Politikerin in einem indischen Restaurant, Zeit für ein Gespräch über ihre politische Zukunft. „Mich nervt es, dass gerade der Eindruck entstehen könnte, auch bei den Grünen drehe sich bei den Spitzenposten alles nur um die Männer“, sagt sie beim Mittagessen. „Ich will nicht, dass es bei den weiblichen Kandidaten nur darum geht, die Frau an der Seite von Mister X zu suchen.“ In den letzten Monaten hatten mehrere Kandidatinnen aus der jüngeren Generation abgewunken. Auch bei der Urwahl für die Spitzenkandidatur war Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt konkurrenzlos ins Rennen gegangen. „Es muss sich aber auch mal jemand trauen“, sagt Baerbock.
Dabei hatte sie selbst eigentlich schon Nein gesagt, gerade mal sieben Wochen ist das her. In der letzten Oktoberwoche sitzt Baerbock in ihrem Bundestagsbüro, die Jamaika-Sondierungsgespräche mit Union und FDP haben vor wenigen Tagen begonnen. Baerbock gehört zum 14-köpfigen Verhandlerteam der Grünen, sie ist für Europapolitik und Klimaschutz zuständig. In einem Interview erklärt sie einmal mehr, warum aus ihrer Sicht der Kohleausstieg notwendig ist. Auch weil sie ihren beiden Töchtern, zwei und sechs Jahre alt, einen lebenswerten Planeten hinterlassen wolle. Im Anschluss sagt sie, dass sie sich übrigens entschieden habe: „Für mich kommt der Parteivorsitz nicht infrage.“
Es sind Zeiten, in denen auch Baerbock wieder zu spüren bekommt, wie mühsam es ist, den Politikbetrieb mit der Familie zu vereinbaren. Im Wahlkampfendspurt hatte sie ihrer älteren Tochter versprochen, bald wieder mehr Zeit für sie zu haben. Dann kamen die Sondierungsgespräche, mit Sitzungen bis tief in die Nacht. Mit grün-internen Telefonkonferenzen, bei denen der Milchreis anbrannte. Mit schlechtem Gewissen, weil die Tochter doch gerade erst eingeschult worden war. Und auch die Herbstferien schrumpften auf eine einzige Übernachtung auf einem Bauernhof in der Nähe zusammen. Ihre Tochter wollte wenigstens einmal den Urlaubskoffer packen.
Doch nun hat Baerbock beschlossen, offensiv damit umzugehen. Man könne nur etwas verändern, wenn man ehrlich feststelle, dass es noch ein Problem gebe, sagt sie: „Das betrifft ja nicht nur Politikerinnen, sondern auch Frauen in vielen anderen Berufsfeldern.“ Natürlich habe sie selbst sich gefragt, ob sich das Amt der Parteichefin mit kleinen Kindern vereinbaren lasse. Parteivorsitzende zu sein, das bedeutet schließlich, noch mehr Abend- und Wochenendtermine besetzen zu müssen. Aber warum man nicht auch im Bundesvorstand, der ja nicht nur aus den beiden Parteichefs bestehe, stärker im Team arbeiten könne, fragt Baerbock. Sie kann sich eine stärkere Rolle der Beisitzer in dem Gremium vorstellen. „Klar ist: Ich werde nicht rund um die Uhr da sein können und es muss trotzdem gehen.“
Ihr Sinneswandel rührt aber auch daher, dass sich nach dem Jamaika-Aus die Lage verändert hat. In Regierungszeiten hätte eine Parteichefin in dieser schwierigen Konstellation den Laden zusammenhalten müssen. Auch wenn Baerbock das Scheitern bedauert, sieht sie nun auch wieder mehr Freiheiten, sich der Parteiarbeit zu widmen. „Ich glaube, es täte uns Grünen gut, wenn wir auch nach innen hin kontroverse Debatten wieder offener und unverbissener austragen würden“, sagt sie. In den Sondierungsgesprächen habe sie außerdem festgestellt, dass man an einigen Stellen programmatisch nachlegen könne. „Wir müssen unser Profil weiter schärfen“, findet Baerbock. Verantwortlichkeit in der aktuellen politischen Lage bedeute, starke inhaltliche Angebote zu machen, sagt sie: „Wir können radikal und staatstragend zugleich sein.“ Sie selbst jedenfalls ist jetzt dazu bereit.