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Pro-armenische Rebellen versammeln sich in Berg-Karabach. Armenien hat dort den Kriegszustand verkündet.
© Imago
Update

„Wir stehen vor einem umfassenden Krieg“: Armenien verkündet Kriegszustand in Berg-Karabach

Nach Bombenangriffen der aserbaidschanischen Armee hat Armenien die Generalmobilmachung verkündet. Auch Aserbaidschan verhängt das Kriegsrecht.

Nach dem Aufflammen der Kämpfe in der Unruheregion Berg-Karabach hat Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan vor einem militärischen Flächenbrand gewarnt. Aserbaidschans "autoritäres Regime hat dem armenischen Volk erneut den Krieg erklärt", sagte Paschinjan am Sonntag im armenischen Fernsehen. Er fügte hinzu: "Wir stehen vor einem umfassenden Krieg im Südkaukasus", der für die Region und möglicherweise auch darüber hinaus "unabsehbare Folgen haben könnte".

Zuvor hatte die aserbaidschanische Armee die Unruheregion Berg-Karabach bombardiert. Die armenische Regierung verhängte das Kriegsrecht und verkündete die Generalmobilmachung. Das erklärte Regierungschef Nikol Paschinjan am Sonntagmittag. Alle Volljährigen würden zu den Waffen gerufen, hatte Berg-Karabachs Präsident Araik Harutjunjan bereits zuvor in einer Krisensitzung des Regionalparlaments gesagt.

Am Sonntagnachmittag verhängte auch Aserbaidschan das Kriegsrecht. "Das Kriegsrecht tritt um Mitternacht in Kraft", erklärte Präsidentensprecher Hikmet Hadschijew am Sonntagabend in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Außerdem wurde nach seinen Angaben für mehrere große Städte, darunter Baku, sowie Gebiete in der Nähe der Frontlinie in Berg-Karabach eine nächtliche Ausgangssperre verhängt.

In der Unruheregion Berg-Karabach liefern sich die aserbaidschanische Regierungsarmee und pro-armenische Rebellen heftige Kämpfe. Dabei habe die aserbaidschanische Armee „schwere Verluste“ erlitten, meldeten die Rebellen am Sonntagmorgen.

Armenien: aserbaidschanische Armee bombardierte Berg-Karabach

Das armenische Verteidigungsministerium, das die Rebellen unterstützt, meldete den Abschuss zweier aserbaidschanischer Militärhubschrauber sowie von drei Drohnen. Zuvor habe die aserbaidschanische Armee die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Berg-Karabach am frühen Sonntagmorgen bombardiert, erklärten die Rebellen.

Die Hauptstadt Stepanakert sei beschossen worden, die Menschen sollten sich in Sicherheit bringen, teilten die Behörden in Berg-Karabach am Sonntag mit. Zahlreiche Häuser in Dörfern seien zerstört worden. Es soll auch Verletzte geben.

Aserbaidschans Verteidigungsministerium erklärte, die Armee habe eine „Gegenoffensive“ gestartet, „um Armeniens militärische Aktivitäten zu stoppen und die Sicherheit der Bevölkerung zu schützen“. Das Ministerium sprach von einem abgeschossenen Hubschrauber.

Beide Seiten gaben sich gegenseitig die Schuld für die Gefechte. Der Beschuss habe am frühen Morgen von aserbaidschanischer Seite begonnen, schrieb der armenische Regierungschef Paschinjan auf Facebook. „Die gesamte Verantwortung dafür hat die militär-politische Führung Aserbaidschans“, teilte die Sprecherin des Verteidigungsministeriums von Armenien mit.

Eriwan habe deshalb Hubschrauber und Kampfdrohnen eingesetzt. Drei gegnerische Panzer seien getroffen worden. Es gab Berichte, dass der Ausnahmezustand verhängt worden sei.

EU-Ratschef Michel zeigt sich tief besorgt

Die EU und der Europarat forderten Armenien und Aserbaidschan dazu auf, die Gefechte in der Konfliktregion Berg-Karabach sofort zu beenden. EU-Ratschef Charles Michel zeigte sich am Sonntag via Twitter tief besorgt. „Um eine weitere Eskalation zu verhindern, müssen militärische Handlungen dringend aufhören.“ Der einzige Ausweg sei die unverzügliche Rückkehr zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen.

„Die Europäische Union ruft zum unverzüglichen Ende der Kampfhandlungen, zur Deeskalation und zur strikten Überwachung der Waffenruhe auf“, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Auch er rief zur Rückkehr zu Verhandlungen auf.

Europarat-Generalsekretärin Marija Pejcinovic Buric erklärte, beide Länder sollten Verantwortung übernehmen und Zurückhaltung üben. Die Kampfhandlungen sollten unverzüglich eingestellt werden. „Beim Beitritt zum Europarat haben sich beide Länder verpflichtet, den Konflikt mit friedlichen Mitteln zu lösen, und diese Verpflichtung ist strikt einzuhalten.“ Pejcinovic Buric rief beide Seiten dazu auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Menschenleben zu schützen.

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Auch Deutschland und Frankreich zeigten sich zutiefst besorgt über die Zusammenstöße in Berg-Karabach und Berichte über Opfer in der Zivilbevölkerung. „Frankreich fordert ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen und eine Wiederaufnahme des Dialogs“, erklärte das französische Außenministerium in Paris.

Der Konflikt könne nur auf dem Verhandlungsweg gelöst werden, betonte der deutsche Außenminister Heiko Maas in Berlin. Die OSZE-Minsk-Gruppe stehe mit ihren drei Co-Vorsitzenden Frankreich, Russland und USA dafür bereit. Die OSZE ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

Russland fordert Aserbaidschan und Armenien zur Waffenruhe auf

Auch Russland forderte Armenien und Aserbaidschan zu einem sofortigen Ende der Kampfhandlungen auf. Außenminister Sergej Lawrow führe intensive Gespräche, um die Konfliktparteien zur Einstellung des Feuers um die Konfliktregion zu bewegen, teilte die Behörde am Sonntag in Moskau mit. Beide Länder müssten an den Verhandlungstisch zurückkehren.

[Lesen Sie hier, was Deutschland allgemein im Kaukasus-Konflikt tun könnte.]

Lawrow telefonierte unter anderem mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Aus Ankara hieß es lediglich, es sei um die „Aggression“ Armeniens gegangen. In Moskau teilte das Ministerium mit, beide Chefdiplomaten hätten sich besorgt gezeigt mit Blick auf die Lage. Sie sprachen den Familien der Opfer ihr Beileid aus.

Armenische Streitkräfte zerstören ein aserbaidschanisches Militärfahrzeug an der Kontaktlinie der Republik Berg-Karabach.
Armenische Streitkräfte zerstören ein aserbaidschanisches Militärfahrzeug an der Kontaktlinie der Republik Berg-Karabach.
© Armenian Defense Ministry/dpa

Ein länger andauernder militärischer Konflikt könnte weitreichende Auswirkungen haben. Russland und die Türkei konkurrieren um Einfluss in der Kaukasusregion. Das ölreiche Aserbaidschan hat seine Armee in den vergangenen Jahren hochgerüstet und kann auf die Unterstützung der Türkei zählen. Russland unterstützt dagegen Armenien, wo es einen Militärstützpunkt unterhält.

Türkei unterstützt Aserbaidschan

Ankara sicherte Aserbaidschan umgehend volle Unterstützung zu. "Das türkische Volk wird unsere aserbaidschanischen Brüder wie immer mit allen Mitteln unterstützen", erklärte Präsident Recep Tayyip Erdogan auf Twitter. Armeniens Regierungschef Paschinjan warnte Ankara davor, sich in den Konflikt einzumischen.

Die beiden Kaukasus-Staaten Armenien und Aserbaidschan befinden sich seit fast 30 Jahren in einem Konflikt um die Kontrolle über die Region Berg-Karabach. Das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Berg-Karabach war zu Sowjetzeiten Aserbaidschan zugeschlagen worden. Pro-armenische Rebellen brachten das Gebiet nach Kämpfen mit rund 30.000 Todesopfern Anfang der 90er Jahre unter ihre Kontrolle.

Berg-Karabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan

1991 rief Berg-Karabach seine Unabhängigkeit aus; international wird das Gebiet jedoch bis heute nicht als eigenständiger Staat anerkannt. Aserbaidschan will die Region wieder vollständig unter seine Gewalt bringen, notfalls mit Gewalt. Völkerrechtlich gehört die Region zum islamisch geprägten Aserbaidschan.

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Seit 1994 gilt in der Region eine Waffenruhe, die aber immer wieder gebrochen wurde. Im Juli kam es an der Grenze zwischen den verfeindeten Republiken zu schweren Gefechten; die Kämpfe lagen jedoch Hunderte Kilometer nördlich von Berg-Karabach. Armenien setzt auf Russland als Schutzmacht, die dort Tausende Soldaten und Waffen stationiert hat.

In den vergangenen Wochen war der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan erneut aufgeflammt. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, Dörfer im Grenzgebiet angegriffen zu haben. Zuletzt hatte es im April 2016 heftige Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach gegeben. Dabei starben mehr als hundert Menschen. 2010 war die bislang letzte große Initiative für einen Frieden zwischen Eriwan und Baku gescheitert. (AFP, dpa, Tsp)

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