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Katarina Barley (50) ist seit März 2018 Justizministerin und jetzt SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl.
© Bernd Thissen/dpa

Katarina Barley: "Alle müssen jetzt runter vom Sofa"

Katarina Barley, SPD-Spitzenkandidatin zur Europawahl und Justizministerin, spricht über den Brexit, antieuropäische Tendenzen und das Tief ihrer Partei.

Frau Barley, Sie sind Deutsche und Britin. Was ist das Britische an Ihnen – mögen Sie Porridge und Kidney Pie?

Nein, ich bin nicht der größte Fan der britischen Küche. Britisch an mir ist vor allem mein Humor. Damit muss ich allerdings manchmal aufpassen, weil es Ironie in der deutschen Politik schwer hat. Und mein Umgang mit kleinen und großen Katastrophen ist auch eher britisch als deutsch.

Was ist der Unterschied zwischen Deutschen und Briten, wenn etwas schiefgeht?

Die Deutschen stellen grundsätzliche Fragen, wie das passieren konnte und was jetzt zu tun sei. Die Briten bleiben stattdessen gelassen, schauen nicht nach hinten, sondern nach vorn. Das ist mir vertraut: Wenn etwas nicht so läuft, wie es sollte, mache ich mich sofort auf die Suche nach einer besseren Lösung.

Und was ist das Deutsche an Ihnen?

Ich bin sehr pflichtbewusst. Und ich arbeite gerne, das macht mir einfach Spaß. „Work and life“ ist bei mir nicht so stark getrennt.

Können Sie als Britin eigentlich verstehen, warum eine Mehrheit Ihrer Landsleute aus der EU hinauswill?

Nein, ich kenne aber die Mentalität, die dahinter steckt. Da spielen die Insellage und die Geschichte Großbritanniens als ehemalige Weltmacht eine große Rolle. Mit dem Commonwealth haben die Briten zudem erfahren, dass es andere Staatengemeinschaften als die EU gibt. Was mich wahnsinnig ärgert, ist, dass bei der Entscheidung über den Brexit gezielt Falschinformationen gestreut und alles an der Europäischen Union schlecht geredet wurde.

Premierministerin Theresa May hat vor wenigen Tagen im Parlament eine weitere Schlappe erlitten. Was passiert, wenn sie für den Brexit-Vertrag keine Mehrheit bekommt?

Ich gebe die Hoffnung noch nicht ganz auf, dass Theresa May eine Mehrheit für ihren Kurs bekommt. Die „Hardcore-Brexiteers“ fürchten sich davor, dass es am Ende doch ein zweites Referendum geben könnte. Umgekehrt fürchten sich die „Remainer“ davor, dass es einen harten Brexit gibt. Ein harter Brexit jedenfalls hätte verheerende Folgen für die Briten und auch für die EU. Wir müssen alles tun, um das zu vermeiden.

Welche Handlungsmöglichkeit hat die EU denn noch?

Der Ball liegt in London. Ich bin froh, dass die EU-Staaten hier so geschlossen auftreten, das war nicht selbstverständlich. Die europäische Verhandlungslinie ist konsequent und richtig. Ich bin übrigens noch immer der Ansicht, dass ein zweites Referendum über das Verhandlungsergebnis sinnvoll wäre. Bei der ersten Abstimmung waren die Konsequenzen eines Brexits für niemanden absehbar.

Warum kann die EU nicht nachverhandeln?

Das ausgehandelte Abkommen ist ein gutes Ergebnis. Nachverhandlungen sind inhaltlich nicht möglich und das ist auch richtig so.

Muss man die Briten eigentlich noch bestrafen für den Brexit?

Nein, Strafe ist keine Kategorie in der Politik. Es führt aber kein Weg daran vorbei, dass ein Land die Vorteile der EU-Mitgliedschaft verliert, wenn es die EU verlässt.

Sehen Sie die Gefahr, dass sich in absehbarer Zeit noch andere EU-Mitglieder verabschieden wollen?

Man kann sich nie ganz sicher sein, aber der Brexit ist ein abschreckendes Beispiel. Vielen wird dadurch auch bewusst, welchen Wert die EU hat und welche großartigen Vorteile sie bringt. Die aktuellen Ereignisse zeigen, dass Europa keine Selbstverständlichkeit ist. Wir müssen aufpassen, dass wir die Stabilität und die Verlässlichkeit in der EU wahren.

Sie haben die Europawahl eine „Schicksalswahl“ genannt. Warum?

Wir sehen antieuropäische Tendenzen in allen Mitgliedstaaten, es gibt rechtspopulistische Parteien und in manchen EU-Ländern noch andere Kräfte, die sich gegen Europa wenden. Die Frage ist: Wie soll es weitergehen mit Europa? Welchen Grundkonsens wollen wir bewahren? Die Grundidee der EU war doch: Wir tun uns zusammen, damit es allen besser geht. Leider hat sich spätestens mit Margaret Thatcher die fixe Idee durchgesetzt, dass jedes Land für sich in Brüssel das Beste rausholen muss, auch auf Kosten anderer. Wir sind jetzt an einem Punkt, wo nationale Parolen nach dem Motto „America first“ immer populärer werden. Das lehne ich entschieden ab. Mein Europa ist ein Europa der Solidarität, weg von den nationalen Egoismen. Die Herausforderungen von heute und von morgen können wir nur gemeinsam lösen.

Katarina Barley beim Interview im Willy-Brandt-Haus
Katarina Barley beim Interview im Willy-Brandt-Haus
© Thilo Rückeis

Sagen Sie den Wählerinnen und Wählern: Entweder ihr stimmt für die SPD – oder alles geht den Bach runter?

Die SPD ist die Europapartei in Deutschland. Uns geht es um eine soziale und gerechte Politik für alle Menschen. Wichtig ist deshalb eine hohe Wahlbeteiligung. Meine Botschaft heißt: Alle müssen jetzt runter vom Sofa. Bei diesen Wahlen kommt es wirklich drauf an, in welche Richtung sich Europa entwickelt.

Warum glauben Sie, dass die Wähler der SPD zutrauen, Extremisten und Populisten zu stoppen?

Bislang hat Europa gezeigt, dass es als gemeinsamer Wirtschaftsraum gut funktioniert. Das allein reicht aber nicht. Die SPD will ein Europa, das sich um seine Bürgerinnen und Bürger kümmert und unser aller Leben besser und leichter macht. Dazu gehören für mich zum Beispiel der Schutz vor Arbeitslosigkeit oder ein europäischer Mindestlohn. Die großen Fortschrittsfragen kann der Nationalstaat nicht mehr beantworten, das kann nur Europa. Denken Sie etwa an die Digitalisierung, den Klimawandel, die Situation in einer Welt, in der die USA und China um die Vorherrschaft kämpfen.

Warum sollen die Wähler nur die SPD und nicht auch die CDU als Garanten gegen Rechtspopulisten schätzen?

Ganz einfach: Die Union versagt auf europäischer Ebene beim Kampf gegen Rechtspopulismus. Es ist bezeichnend, dass sie sich von Politikern wie dem ungarischen Regierungschef Viktor Orban, einem ausgewiesenen Antieuropäer, nicht abgrenzt, sondern seine Fidesz-Partei in der Parteienfamilie der europäischen Konservativen behält. Die CSU hat Orban sogar mehrfach eingeladen. Das sagt doch alles.

In Rumänien ist eine sozialdemokratische Regierung am Drücker, die auch nicht gerade als Vorbild bei Rechtsstaatlichkeit und im Kampf gegen Korruption gilt. Kritisieren Sie das offen in Ihrer europäischen Parteienfamilie?

Ja, natürlich. Unser europäischer Spitzenkandidat Frans Timmermans hat sich dazu mehrfach klar geäußert. Anders als die Union tolerieren wir solches Verhalten nicht. Auch ich kritisiere diese Entwicklung, wenn ich rumänische Genossen treffe.

Die SPD liegt in Umfragen um die 15 Prozent. Wie wollen Sie sich vom schlechten Bundestrend absetzen?

Die SPD ist auf Bundesebene deutlich unterbewertet, denn unsere Regierungsarbeit kann sich sehen lassen. Gute Arbeit machen wir auch in Europa. Nehmen Sie die Entsenderichtlinie, die ich noch als Bundesarbeitsministerin auf europäischer Ebene verhandelt habe. Ich erinnere mich gut daran: 16 Stunden Pendeldiplomatie und am Schluss ein toller Erfolg. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort – das ist ein Meilenstein, nicht nur für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Osteuropa, die einen anständigen Lohn bekommen, sondern auch für die Menschen in Deutschland.

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Wegen der Konkurrenz?

Genau, die Entsenderichtlinie schützt sie vor Dumpinglöhnen. Das ist gute sozialdemokratische Politik. Wir haben dafür gesorgt, dass in der EU dieses Prinzip eingeführt wird und zwar gegen den Widerstand der Konservativen und der Wirtschaftsliberalen.

2014 war Martin Schulz nicht nur deutscher, sondern europäischer Spitzenkandidat der Sozialdemokraten. Er holte 27 Prozent. Was ist Ihr Ziel?

Ich will ein sehr gutes Ergebnis für die SPD, aber ich setze mir kein festes Ziel. Ich will einen Wahlkampf führen, der motiviert, mit einer guten Stimmung in meiner Partei und für meine Partei.

Ist die Europawahl nicht nur für die EU, sondern auch für Ihre Partei eine Schicksalswahl, die über das weitere Fortbestehen der SPD entscheiden könnte?

Ich habe diese Spitzenkandidatur übernommen, weil ich meinen Beitrag leisten möchte, dass es der Partei wieder bessergeht. Ich will nicht tatenlos zusehen, wie die SPD schlechter gemacht wird, als sie ist.

Tatenlos sind Sie doch als Justizministerin gar nicht …

Stimmt, aber als Spitzenkandidatin habe ich ganz andere Möglichkeiten, auch innerhalb der Partei zu mobilisieren. Es geht mir darum, dass die Partei ihren Stolz wiedergewinnt.

Sie fordern ein „soziales Europa“. Was heißt das?

Bisher hatten die wenigen sozialen Einsprengsel in Europa immer etwas mit der Freizügigkeit für Arbeitnehmer zu tun, wie die Entsenderichtlinie. Das Soziale muss aber darüber hinaus gehen, sodass klar ist: Europa kommt allen Ländern zugute, allen Menschen in Europa. Das beste Beispiel ist der europäische Mindestlohn. In manchen Ländern sind die Mindestlöhne einfach viel zu niedrig – in Relation gesehen auch in Deutschland. Da können wir über die europäische Ebene mehr Druck reinbringen.

Welche Rolle spielt der europäische Investitionshaushalt, den die SPD will?

Wir brauchen mehr Investitionen und Innovationen. Indem wir die EU finanziell besser unterstützen, geben wir ihr die Möglichkeit, mehr gemeinsame europäische Aufgaben zu finanzieren und vor allem dort zu investieren, wo es besonders notwendig ist. Wir verfolgen hierbei einen ähnlichen Ansatz wie Präsident Macron. Das ist ein wichtiger Hebel, um etwas zu verbessern – etwa in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit.

Sie haben Macron erwähnt. Auf ihn setzt die SPD große Hoffnungen. Der französische Präsident steht allerdings mit dem Rücken zur Wand. Was bedeutet es für Europa, wenn er scheitert?

Dass Macron radikale Einschnitte plant, die die arbeitende Bevölkerung hart treffen würden, hat er immer gesagt. Spätestens bei den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen musste er an den Punkt kommen, an dem er jetzt ist, das war doch klar. Er ist kein Sozialdemokrat.

In der SPD haben das viele anfangs ganz anders gesehen...

Ich nicht. Für Europa ist er allerdings ein absoluter Glücksfall, weil er ein glühender, überzeugter Europäer ist. Am Beispiel Frankreichs kann man gerade lernen, wie wichtig funktionierende Volksparteien sind. Es zeigt sich in Frankreich wie gefährlich es ist, wenn Volksparteien keine Rolle mehr spielen. Bei den letzten Wahlen hatten wir nur noch eine Polarisierung zwischen Macron und den Rechtspopulisten. Die Stimmen für sozialen Zusammenhalt und Fortschritt sind damit ins Hintertreffen geraten.

Viele in Ihrer Partei glauben, die Bundesregierung müsste noch stärker auf Macrons Reformvorschläge für die EU eingehen. Hat Deutschland genug getan?

Im Bereich der Bankensicherung ist sehr viel passiert – auch mit Frankreich zusammen. Bei der Finanztransaktionssteuer orientieren wir uns am französischen Modell, das sich nur auf Aktienhandel bezieht und nicht auf den gesamten Börsenhandel. Das reicht manchen in Deutschland nicht. Ich kann das verstehen, aber es handelt sich dabei auch nur um einen ersten Schritt, in Abstimmung mit Frankreich.

Frau Barley, sie sind bald zwei Jahre Bundesministerin. Wie schwer fällt Ihnen der Abschied aus dem Kabinett?

Schwer. Ich bin sehr gerne Justizministerin. Mit der Eine-für-alle-Klage und dem Mieterschutzgesetz haben wir viel erreicht. Jetzt sehe ich meine Aufgabe aber auf der europäischen Ebene.

Wann werden Sie Ihr Amt aufgeben?

Ich werde es bis zur Europawahl ausfüllen. In den nächsten Monaten stehen gerade in Rechtsfragen wichtige Entscheidungen in Brüssel an. Das möchte ich noch zu Ende bringen.

Wünschen Sie sich eine Frau als Ihre Nachfolgerin?

Die SPD hat immer gesagt, dass sie ihre Kabinettsposten zur Hälfte mit Frauen und Männer besetzen wird. Es spricht also viel dafür. Ich freue mich immer, wenn qualifizierte Frauen in verantwortungsvolle Positionen kommen.

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