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Leidet Anders Breivik wirklich unter paranoider Schizophrenie?
© dpa

Medizinische Klassifikation: Wie krank ist Anders Breivik?

Der Attentäter Anders Breivik ist in einem psychiatrischen Gutachten für unzurechnungsfähig erklärt worden. Doch Vorsicht: Die Gesellschaft neigt dazu, Verbrechen, wie die des norwegischen Massenmörders, zu pathologisieren.

Der norwegische Attentäter Anders Breivik ist in einem psychiatrischen Gutachten für unzurechnungsfähig erklärt worden. Drei Psychologen und ein Psychiater attestierten ihm eine Psychose sowie paranoide Schizophrenie. Gerade hat das Gericht in Oslo eine neue Begutachtung angeordnet. Im Fall Breivik scheint mir das sinnvoll.

Es gibt eine menschliche Sehnsucht danach, sich schwer fassbare Dinge zu erklären. Die Morde in Norwegen gehören dazu. Die Gesellschaft neigt dazu, solche Verbrechen mit einer psychischen Erkrankung des Täters zu begründen, das macht sie weniger angsteinflößend. Und wenn der Täter krank ist, muss man sich scheinbar keine Gedanken mehr machen, ob seine Taten gesellschaftliche Ursachen haben. Doch sind alle Gewalttäter psychisch krank? Um diese Frage zu beantworten, müsste man definieren, was eine psychische Krankheit ist. Es gibt jedoch ein Problem: Die medizinischen Klassifikationen sind weit gefasst. Derzeit wird jede Form von psychischer Auffälligkeit als Störung bezeichnet.

Würde man einen engeren Krankheitsbegriff zugrunde legen, müsste man prüfen, ob Grundfunktionen des Seelenlebens eingeschränkt sind. Bei Psychosen etwa ist der Betreffende nicht mehr Herr seiner Gedanken. Er hört Stimmen, die ihm Befehle geben. Manche können nur noch unzusammenhängende Sätze formulieren, weil ihnen fremde Stimmen oder Gedanken in die Sprache hineinregieren. Andere sind im Alltag desorientiert, fühlen sich bedroht. Natürlich kann man solche Symptome auch schildern, ohne sie zu haben, um in den Schutz einer psychischen Krankheit zu gelangen. Deswegen zählt, ob der Mensch im Alltagsleben eingeschränkt ist durch das, was er angeblich erlebt. Bei Breivik ist von solchen Symptomen nichts bekannt. Es bleibt als Diagnose die wahnhafte Störung: die höchst unplausible Überzeugung, an der gegen alle Evidenzen festgehalten wird. Doch absurde Überzeugungen allein sind keine Krankheit, auch wenn sie deswegen nicht weniger bedrohlich sein können. Viele Menschen sind unbeirrbar davon überzeugt, dass sie recht haben.

Das Dilemma der derzeitigen Klassifikationen psychischer Störungen ist: Sie sind so gestrickt, dass Menschen auch dann psychotherapeutische Hilfe erhalten, wenn sie leiden, aber nicht im engeren Sinne krank sind. Ohne Krankheit keine Leistung der Krankenkasse. Man kann aber nicht jeden, der sich eigentümlich verhält oder obsessiv an einer Idee festhält, pathologisieren. Das ist die Abwehrreaktion einer Gesellschaft, die sich nicht mit ihren eigenen Vorurteilen auseinandersetzen will.

Andreas Heinz

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