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In New York demonstrieren Aktivisten im September 2018 für die Aufnahme Taiwans in die UN und ihre Organisationen, etwa die WHO.
© IMAGO/Pacific Press Agency

Asiens ignorierte Demokratie: Taiwan gehört in die Vereinten Nationen

Vor 50 Jahren verlor Taipeh seinen UN-Sitz. Deutschland sollte die Rückkehr unterstützen – gerade angesichts Chinas militärischer Drohungen. Ein Kommentar.

Qiao Guanhua lachte. Der 58-Jährige hatte in New York gerade hinter dem Schild mit der Aufschrift „China“ Platz genommen, im Rücken die Delegation Äquatorial-Guineas, vor sich die Kameras der Weltpresse, als er von den Journalisten gefragt wurde, wie er sich fühle an diesem 15. November 1971.

Mit dem Strahlen des siegreichen Diplomaten fragte der Gesandte Mao Zedongs aus Peking zurück, ob sein Gesichtsausdruck nicht Antwort genug sei. Der Tag besiegelte den Durchbruch der Volksrepublik China auf internationaler Bühne.

Qiao Guanhua (links), Vizeaußenminister der Volksrepublik China, am 15. November 1971 bei der 26. UN-Generalversammlung. Kurz zuvor hatten die Vereinten Nationen Peking anerkannt statt Taipeh.
Qiao Guanhua (links), Vizeaußenminister der Volksrepublik China, am 15. November 1971 bei der 26. UN-Generalversammlung. Kurz zuvor hatten die Vereinten Nationen Peking anerkannt statt Taipeh.
© imago/Xinhua

Als die Vereinten Nationen kurz zuvor – mit Resolution 2758 vom 25. Oktober 1971 – die Volksrepublik zur legitimen Vertreterin Chinas erklärten, gab es dafür gute Gründe. Bis dato hatten die UN die auf der Insel Taiwan regierende Republik China anerkannt. Dorthin war 1949 die von Chiang Kai-shek geführte nationalistische Kuomintang (KMT) geflohen, nachdem sie den Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten verloren hatte. Obwohl die KMT auf dem Festland fortan nichts mehr zu sagen hatte, hielt sie den Anspruch aufrecht, weiter Chinas wahre Regierung zu sein.

Ihr tatsächliches Herrschaftsgebiet, Taiwan, regierte die KMT brutal und unter Einsatz dauerhaften Kriegsrechts. Taiwans Bevölkerung, die bis zur Machtübernahme durch Chiangs Republik unter japanischer Kolonialherrschaft gestanden hatte, erlebte die Zeit des „Weißen Terrors“. Die KMT agierte als weitenteils diktatorisches Regime.

Eine von den USA vorgeschlagene Zwei-Staaten-Lösung interessierte weder Peking noch Taipeh. 1971 stimmten die USA noch gegen die Anerkennung der Volksrepublik, 1979 nahm dann auch Washington diplomatische Beziehungen zu Peking auf. Die zu Taipeh sind bis heute gut – aber inoffiziell.

Faktisch ist das demokratische Taiwan längst unabhängig

Wer 2021 auf den Inselstaat blickt, stellt zweierlei fest. Erstens: Taiwan sitzt noch immer nicht in der UN-Generalversammlung. Zweitens: Das jetzige Taiwan hat mit dem damaligen wenig zu tun. Seit der Demokratisierung in den 1990er Jahren hat sich eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelt, es gibt Meinungs- und Pressefreiheit, ein Parteienspektrum (die KMT sitzt in der Opposition). 2019 legalisierte Taiwan als erstes asiatisches Land die Ehe für alle.

Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung versteht sich nicht als chinesisch. In einer aktuellen Umfrage der National Chengchi University sagten 63,3 Prozent, sie seien taiwanesisch, nur 2,7 Prozent definierten sich als chinesisch (31,4 Prozent: beides). Für eine schnelle oder spätere Vereinigung mit China sprachen sich gerade einmal 7,4 Prozent aus. Präsidentin Tsai Ing-wen ist Verfechterin des Status Quo: dem Erhalt der faktisch längst existierenden Unabhängigkeit bei gleichzeitigem Verzicht darauf – um des Friedens willen –, diese formal zu vollziehen.

Auch wenn der Staat offiziell Republik China heißt, versteht sich die Mehrheit von Taiwans Bevölkerung nicht mehr als chinesisch.
Auch wenn der Staat offiziell Republik China heißt, versteht sich die Mehrheit von Taiwans Bevölkerung nicht mehr als chinesisch.
© picture alliance/dpa/AP/Chiang Ying-Ying

Wenn Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping nun behauptet, Taiwan gehöre seiner Regierung, ist das ebenso geschichtsvergessen, wie es umgekehrt größenwahnsinnig wäre, würde Tsai das Festland beanspruchen (was sie nicht tut). Denn entgegen verbreitetem Halbwissen hatte die Volksrepublik, von Mao bis Xi, nie irgendwelche Macht in Taiwan. Schon weil sie erst 1949 gegründet wurde, ist der oft kolportierte Begriff „Wiedervereinigung“ falsch, genau wie die beliebte Bezeichnung Taiwans als „abtrünniger Provinz“. Eine militärische Einnahme wäre eine Annexion.

Chinas militärische Drohungen dürfen Deutschland nicht kalt lassen

Die gut 150 Militärflugzeuge, die China Anfang Oktober durch Taiwans Luftüberwachungszone schickte, sind eine Eskalation, die auch Deutschland nicht kalt lassen darf. Xi, der sich als größter Herrscher seit Mao verewigen will, macht klar, dass ihm Hongkong, wo er die Demokratie schon rasant beseitigt hat, auf Dauer nicht genügt. Bis 2025, warnt Taiwans Verteidigungsminister, könnte China zum Angriff bereit sein.

US-Präsident Joe Biden hat gerade ungewohnt deutlich die „Verpflichtung“ seines Landes betont, Taiwan im Falle eines Angriffs zu verteidigen. US-Militärs bilden bereits taiwanesische Soldaten aus. Doch Deutschland darf sich nicht damit begnügen, dass die USA ihre Flügel schützend über Taiwan ausbreiten werden (zumal das Weiße Haus Bidens Äußerung wenig später relativierte), ist dies auch noch so alte deutsche Tradition.

[Exklusiv für Abonnenten von Tagesspiegel Plus: Die Taiwanfrage: Welche Interessen verfolgen die USA, die EU und China?]

Die Regierung Merkel gab sich meist damit zufrieden, nach Gipfeltreffen zu betonen, man habe „das Thema Menschenrechte“ angesprochen, sei es mit Blick auf Xinjiang, wo China Hunderttausende Uiguren einsperrt, oder Hongkong. Was Taiwan angeht, erinnerte man schmallippig an die Ein-China-Politik. Symptomatischer Tiefpunkt im April 2020: Nachdem Taiwan Deutschland eine Million Corona-Masken geschenkt hatte, war sich Regierungssprecher Steffen Seibert in der Bundespressekonferenz zu schade, das Wort „Taiwan“ auch nur auszusprechen. Die Kanzlerin selbst äußert sich öffentlich nicht zu Taiwan.

Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping bei einem Gipfeltreffen in China im September 2019.
Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping bei einem Gipfeltreffen in China im September 2019.
© picture alliance/dpa/Michael Kappeler

China hat sich von schüchtern erhobenen Zeigefingern ohnehin nie beeindrucken lassen, erst recht nicht, wenn Merkel oder ihre Minister auf Chinareisen wieder einmal Top-Manager im Gepäck hatten. Das Signal war ein Festhalten an der hinlänglich als Illusion entlarvten Losung „Wandel durch Handel“, die schon Merkels Vorgänger Schröder zum Leisetreten gegenüber Peking motiviert hatte.

Die Bundesregierung muss eine klarere Sprache finden

Die neue Bundesregierung muss eine klarere Sprache finden. Es ist höchste Zeit, dass sich Deutschland schärfer für Taiwans multilaterale Teilhabe einsetzt. Das EU-Parlament hat in dieser Woche den richtigen Ton gesetzt: Mit 580 zu 26 Stimmen votierte es für eine engere Partnerschaft mit Taiwan.

Nicht nur die Pandemie hat gezeigt, was der Staatengemeinschaft entgeht, wenn Taiwan nicht mit am Tisch sitzt. Allenthalben wurde der Staat für seine Viruseindämmung gelobt. Aber weil er etwa bei der WHO keinen Sitz hat, konnte er seine Expertise nicht teilen.

[Mehr zum Thema bei Tagesspiegel Plus: „Bei einem UN-Forum trat ich als Telepräsenz-Roboter auf“ – ein Interview mit Taiwans Digitalministerin Audrey Tang]

Taiwans Ersuchen einer UN-Mitgliedschaft, das offiziell seit 2007 ruht, wurde kürzlich von Außenminister Jaushieh Joseph Wu angedeutet. Taiwan, schrieb er in einem Artikel, dürfe nicht länger aus dem UN-System exkludiert werden. Die Resolution von 1971, über die der Volksrepublikaner Qiao so herzlich lachen konnte, behandle lediglich die Repräsentation Chinas, nicht die Taiwans. Der Wortlaut gibt Wu recht. Geradezu absurd sei es, dass selbst taiwanesische Journalisten keine Akkreditierung für UN-Gelände erhalten können. Der Menschenverstand gibt ihm recht.

Präsidentin Tsai Ing-wen bei ihrer Rede am 10. Oktober, dem taiwanesischen Nationalfeiertag.
Präsidentin Tsai Ing-wen bei ihrer Rede am 10. Oktober, dem taiwanesischen Nationalfeiertag.
© picture alliance/dpa/ZUMA Press Wire/Daniel Ceng Shou-Yi

Präsidentin Tsai sagte in ihrer Rede am taiwanesischen Nationalfeiertag jüngst, ihr Land sei „nicht mehr das Waisenkind Asiens“. Das stimmt – weil sich zuletzt etwa die EU-Staaten Litauen und Tschechien Taiwan zugewandt haben; weil Australien und Japan ihre Beziehungen zu Taiwan stärken; weil die G7 für Taiwans Teilnahme an WHO-Foren plädiert haben.

Und es stimmt nicht – weil die 23,5 Millionen Einwohner Taiwans vor der weltweit wichtigsten Versammlung keine Stimme haben. Das ist ein Missstand, den eine außenpolitisch glaubhafte Bundesregierung nicht mit Achselzucken oder Kritik im Flüsterton quittieren darf. Sie muss sich entschieden für Taiwans Inklusion auf multilateraler Ebene aussprechen – mit dem kurzfristigen Ziel des Beobachterstatus und dem langfristigen Ziel der UN-Mitgliedschaft.

Chinas militärische Drohgebärden müssen ein Weckruf sein. Wer sich ausmalt, was Taiwan bevorsteht, wenn Peking im Wissen um die internationale, auch deutsche, Passivität ernst macht, dem bleibt das Lachen im Halse stecken.

Cornelius Dieckmann

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