Novellierung: Stasi-Mitarbeit verjährt offenbar nie
Wieder wird das Stasi-Unterlagengesetz novelliert. 45 Ex-Stasi-Mitarbeiter sollen aus der Behörde geworfen werden. Haben Joachim Gauck und Marianne Birthler, die Vorgänger von Behördenleiter Roland Jahn, ihren Job verschlafen?
Blicken wir in das Jahr 2019. 30 Jahre Mauerfall, eine Generation ist ohne den Schandbau erwachsen geworden. Zeitzeugen berichten Urenkeln von der im Gesamteuropa versunkenen DDR, die Episode Arbeiter- und Bauernstaat samt seiner skurrilen Repräsentanten füllt Seiten im Schulbuch und bei Wikipedia. Routinemäßig wird des Unrechts und der Toten gedacht, hier Schrecken, da Ostalgie. Die Stasi ist erforscht. Doch der Bundes-Unterlagenbeauftragte verlangt, jetzt erst recht nach Ex-Spitzeln zu fahnden. Warum? „Gesellschaftlicher Bedarf.“ Der Bundestag spurt.
Fantasie braucht es für die Prognose keine. Sie unterscheidet sich kaum von der Gegenwart. An diesem Freitag soll der Bundestag das Stasi-Unterlagengesetz zum achten Mal novellieren. Die IM-Prüfung im öffentlichen Dienst wird verschärft und bis 2019 verlängert, 45 Ex-Stasi-Mitarbeiter sollen aus der Behörde geschmissen werden. Begründung: „Gesellschaftlicher Bedarf.“ Behördenleiter Roland Jahn erweckt den Eindruck, als hätten Joachim Gauck und Marianne Birthler ihren Job verschlafen. Ein Schlag ins Gesicht der Opfer sei jeder aus der Stasi-Gruppe, sagt Jahn. Als fange Aufarbeitung mit ihm erst an.
Man könnte ihn gewähren lassen, setzte er nicht eine befremdliche Tradition fort: Die Bürgerrechtler an der Spitze der Behörde scheren sich wenig um Bürgerrechte und nutzen ihr Amt, um politisch Missliebige ins Abseits zu stellen. Gerade musste sich Marianne Birthler vom Bundesgerichtshof erklären lassen, dass Gregor Gysi nicht „willentlich und wissentlich“ spitzelte, wie sie behauptet hat. Zuvor hatte ihr das Bundesverwaltungsgericht bedeuten müssen, auch Altkanzler sind Opfer und gehören vor Spitzel-Akten geschützt. Birthler wollte das nicht einsehen und ließ das Parlament nach der Behördenflöte tanzen, für die Aufarbeitung folgenlos. Es ging um Bürgerrechthaberei.
Kaum anders Jahn. Die 45, die angeblich ein Schlag ins Gesicht der Opfer sind, kann er nicht vor die Tür setzen, also muss sich nun bitte die Volksvertretung um das Problemchen kümmern. Betroffenheit als nationales Anliegen, verpackt in ein rechtlich fragwürdiges Einzelfallgesetz. Der „gesellschaftliche Bedarf“ ist Jahns eigener. Die Revolution frisst ihre Angestellten.
Man kann Verständnis haben für die Schicksale und Verletzungen der Gaucks, Birthlers und Jahns. Doch Schicksale sind kein Maß für Behördenhandeln. Das Stasi-Unterlagengesetz ist, indem es rechtswidrig gesammelte Daten offenlegt, eine Ausnahme im deutschen Regelstaat. Mit den Jahren schwindet nicht nur ihr Nutzen, sondern auch ihre Legitimität. Die Akten bleiben für Opfer geöffnet. Das ist notwendig. Neue Befugnisse für verdachtslose Stasi-Kontrollen sind es nicht. Totschlag verjährt in diesem Land nach 20 Jahren, Stasi-Mitarbeit, und sei sie noch so kurz und folgenlos, offenbar nie.
Frieden, Vertrauensschutz, Verhältnismäßigkeit, das wären Prinzipien, von denen Bürgerrechtler sich leiten lassen könnten, wenn die Revolution vorüber ist. Aber für manchen läuft sie eben weiter.