Martin Schulz und die SPD: Die seltsamen Groupies des Gottkanzlers
Für Martin Schulz haben sogar die Jusos die Revolution vertagt. Die SPD ist im kollektiven Freudentaumel. Doch der Tag der Abrechnung kommt erst noch. Eine Kolumne.
Es gibt Momente, da merkt man, dass sich gerade etwas verändert im Land. In meinem Fall war es die Ankündigung eines Freundes, Juso-Mitglied schon seit Jahren. Ein von Grund auf skeptischer und eigentlich auch recht behaarter Mann. Er sagte nur halb im Scherz: aus Solidarität mit Martin Schulz wolle er fortan ebenfalls Glatze tragen – auch privat.
Gut, dachte ich, ist ja nur einer von 70 000. Immerhin waren die Jusos – je nach Lesart – stets das soziale Gewissen beziehungsweise das sozialistische Feigenblatt der SPD. Immer noch etwas linker, als der linke Flügel der Partei. Und zweifellos radikaler als Martin Schulz – seit 1999 Präsidiumsmitglied, bis Januar dieses Jahres Präsident des Europäischen Parlaments, menschgewordenes Establishment.
Aber es wirkt schon so, als sei die SPD, und ganz besonders ihre Jugendorganisation, verzaubert. Im Sinne von: Sie war mal etwas, und von einer Sekunde zur nächsten war sie etwas anderes. Im Falle der Jusos: plötzlich hemmungslos unkritisch.
Die Generation Tinder verehrt Schulz nicht für sein Äußeres
Martin Schulz hat das selbst erlebt, vor einigen Wochen erst, bei einem Juso-Kongress in der Parteizentrale. Was er auch sagte, die jungen Menschen jubelten ihm zu. Manches sagte er doppelt und dreifach. Völlig egal. Am Ende kam auch noch die Juso-Vorsitzende Johanna Uekermann auf die Bühne und machte ein Selfie mit ihm.
Er ist ja auch anbetungswürdig, der Gottkanzler. Mit seinem cäsarenhaften Haarkranz und den sinnlichen Lippen, die denen des verstorbenen Friedensnobelpreisträgers Jassir Arafat in nichts nachstehen. Doch ausgerechnet die als oberflächlich verschriene Generation Tinder verehrt Schulz nicht für sein Äußeres, hört man, sondern für das, wofür er konkret steht. Ja wissen die denn mehr als der Rest der Republik?
Nun ist es der SPD zu gönnen, dass Partei und Kanzlerkandidat wieder zusammenpassen. Nach Gerhard – Genosse der Bosse – Schröder, heute privat Putin-Freund und Demokrat (lupenrein). Oder Peer Steinbrück, der erst Beinfreiheit forderte und als er sie hatte, der Nation vom Cover des SZ-Magazins aus den Mittelfinger zeigte (honorarfrei).
Und jetzt: 100 Prozent Schulz. Keine Gegenstimme, im wahrsten Sinne. Dabei ist doch die Jugend sonst so rebellisch.
Nehmen wir die AfD. Die liegt schon ziemlich weit rechts im Parteienspektrum. Aber der Jungen Alternative ist das nicht genug. Deren Chef, Markus Frohnmaier, vernetzt sich deshalb gegen den ausdrücklichen Wunsch der Parteiführung mit recht Extremen in ganz Europa.
Oder die Union. Die findet Schulz schon ziemlich furchtbar, aber nicht so furchtbar, dass sie ein Boot mieten und ihm über die Spree bis zum Sonderparteitag hinterher schippern würde, nur um ein paar bissige Plakate hochzuhalten. Die Junge Union ist da schmerzfrei. Und die SPD ist nun offenbar wunschlos glücklich. Wäre es da nicht an den Jusos zu fragen: zu glücklich?
Man kann das Johanna Uekermann, die Chefin, 29, direkt fragen. Sie sitzt an einem Frühlingsabend im Erdgeschoss des Willy-Brandt-Hauses auf einem Sofa, rot, klar. Die Jusos haben dort ihre Kampa, die Wand hinter der Couch ist bemalt, mit Schulz’ Gesicht, auch klar.
Johanna Uekermann hat früher nicht gespart mit Kritik an der Parteispitze. Schulz’ Vorgänger Sigmar Gabriel stellte sie öffentlich ein Zeugnis aus: Note 4 minus. Dafür ist sie in der Partei hart angegangen worden. Rückblickend muss man vermuten, dass die Genossen wütend waren, weil es keine 5 war.
Der Gottkanzler erhört sie auch ohne Krawall
Das mit den Noten macht sie heute nicht mehr. Martin – unter Genossen duzt man sich – sei aber sehr aufmerksam, beteilige sich an Diskussionen. Für ein Fleißbienchen müsste das reichen. Umgekehrt spüren die Jusos eine neue Wertschätzung ihrer Arbeit. Kritik um der Kritik Willen findet Uekermann deshalb albern. Der Gottkanzler erhört sie auch ohne Krawall.
Damit es bis zur Bundestagswahl weiter so harmonisch bleibt, müsste Martin Schulz aber wirklich sein erstes Wunder vollbringen. Was er bisher an Fürbitten von den verschiedenen Parteiflügen gehört hat, wird er kaum vereint in ein Programm gießen können. Die Vermögensteuer, die sich die Jusos so sehr wünschen, beispielsweise schon mal nicht. Wahlrecht ab Geburt, keine Chance.
Aber einige der Juso-Forderungen müssen sich im Programm wohl wiederfinden, wenn Schulz im Wahlkampf nicht auf die Hilfe begeisterter junger Menschen mit viel Zeit verzichten will. Er weiß schon welche. Johanna Uekermann auch. Am 25. Juni ist Parteitag. Da wird’s kritisch.
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