Martin Schulz: Meister der Gefühle oder Meister der Macht?
Der SPD-Kanzlerkandidat gehörte zum Establishment der EU, doch Martin Schulz erzählt seine eigene Version der Geschichte: die eines Gestrauchelten. Das funktioniert - noch. Unser Blendle-Tipp.
An einem stürmischen Tag kommt Martin Schulz aus der Leipziger Thomaskirche, und etwas Seltsames geschieht. Der Platz vor der Kirche ist leer, niemand will ihn fotografieren, ihm die Hand schütteln, auf die Schulter klopfen. Für einen seltenen Moment hat der Kanzlerkandidat der SPD Zeit.
Er hat einen langen Tag hinter sich, war mit Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke unterwegs, hat mehrere Wahlkampftermine absolviert, wie seit Wochen schon. Aber jetzt, im aufbrausenden Wind von Leipzig, nachdem ihm Pfarrer Christian Wolff privat die Kirche gezeigt hat, ist Martin Schulz nachdenklich. Ein Kirchenbesuch, sagt er, erinnert ihn immer an seine Jugend, an den Grundschüler einer katholischen Knabenschule, an den Gymnasiasten der Heilig-Geist-Missionsschule, an den Wutpennäler, der er war. Schulz sagt in die anbrechende Nacht hinein: „Ich wollte auf niemanden hören.“
Hört man ihm hier zu, kann man zumindest erahnen, warum er heute so hartnäckig über Gefühl und Wertschätzung, über Respekt und Zuwendung redet. Vielleicht liefert Schulz mit seinem spontanen Rückblick einen Teil der Erklärung: Er fliegt von der Schule, weil er die Nachprüfung nicht packt. „Ich habe nicht an das geglaubt, an was die geglaubt haben, und das habe ich denen auch gesagt.“ Der Ordensobere und Schuldirektor besorgt ihm trotzdem persönlich eine Lehrstelle mit den Worten: „Du bist ja nicht dumm.“ Und was hat er daraus gelernt?
Politik muss Herzensbildung sein, glaubt Schulz
Schulz sagt, dass er erst viel später begreifen konnte, was der Mann für ihn getan habe. „Damals habe ich nicht spüren können, dass das eine innere Haltung war, die ich gelernt habe, indem ich von ihr profitieren durfte.“ Und so glaubt er, dass Politik zuerst Herzensbildung sein muss, weil das Politische sonst im Abstrakten verharre. Das ist keine folkloristische Formel, sondern Grundüberzeugung.
Am Sonntag wird Martin Schulz, 61 Jahre alt, geboren in Nordrhein-Westfalen, Buchhändler ohne Abitur, ehemaliger Bürgermeister von Würselen und späterer EU-Parlamentspräsident, in Berlin zum neuen SPD-Parteivorsitzenden gewählt werden. Seitdem am 24. Januar Noch-Parteichef Sigmar Gabriel auf Amt und Kanzlerkandidatur verzichtete, sind Dinge passiert, die kein Sozialdemokrat je für möglich gehalten hätte. Innerhalb weniger Wochen katapultierte Schulz seine Partei aus dem 22-Prozent-Tal auf Augenhöhe mit der Union.
Dass Schulz als EU-Parlamentspräsident zum europäischen Establishment gehörte, spielt für sein Ansehen offenbar ebenso wenig eine negative Rolle wie Berichte darüber, dass er seine Position dazu genutzt haben könnte, um seine eigenen Leute in lukrative Posten zu hieven.
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