SPD-Kanzlerkandidat bei den Jusos: Der Bauchversteher Martin Schulz
Der SPD-Kanzlerkandidat erklärt auch vor jubelnden Jungsozialisten, warum Gefühl in der Politik so wichtig sei. Und wiederholt am Ende eine Passage vom Beginn seiner Rede.
Am vermeintlichen Ende, als alles schon gesagt scheint, und Martin Schulz seine Redezeit von 20 Minuten um das Doppelte überschritten hat, fragt er die Gastgeberin, ob er noch Zeit habe. Johanna Uekermann, die amtierende Chefin der Jungsozialisten (Jusos), die an diesem Freitagabend zu einer dreitägigen Jugendkonferenz ins Willy-Brandt-Haus geladen hatte, nickt selbstverständlich. Die jungen Menschen im überfüllten Saal lachen. Aber dann drückt der designierte Kanzlerkandidat der SPD einen falschen imaginären Knopf, denn als er weitermacht, wiederholt er eine Redepassage vom Beginn.
Den Jusos ist es egal, sie jubeln auch so, eine sagt zur Entschuldigung, es ginge ja hier nicht um den Aufbau und die Struktur von Reden, sondern um „Inhalte“; die größte Sorge vieler Anwesenden während der Rede sind wiederum gar keine möglichen inhaltlichen Differenzen, sondern allein die Frage: Wie bekommen wir ein Selfie mit dem Martin?
Es ist normal, dass Spitzenpolitiker, zumal im Wahlkampf, dieselbe Rede halten, schließlich müssen sie an unzähligen Orten auftreten. Und eine gute Botschaft will wiederholt sein, damit sie in die Köpfe der Menschen einsickern kann. Sehr ähnliche Passagen zu wiederholen, wie es Schulz allein am Freitagabend unterläuft, lässt zumindest eine Frage im Raum stehen, die sich zunehmend stellt: Kann der Kandidat nicht anders?
Die Botschaft nach mehr Gefühl, nach mehr Solidarität, nach mehr Respekt und natürlich nach mehr Gerechtigkeit könnte irgendwann vielleicht nicht mehr reichen. Deshalb betonen die Wahlkämpfer im Umfeld von Schulz, dass der Kandidat sehr bewusst zunächst ausschließlich versuchen wolle, die eigenen Leute um sich zu scharen, um die größte mögliche Mobilisierung zu erreichen. Man sehe ja, dass es funktioniere, schließlich habe man 10000 neue Mitglieder, davon seien 40 Prozent unter 35 Jahre alt. Immerhin am Montag will man auf der Parteivorstandssitzung doch auch über Inhalte reden, etwa wie man denn nun konkret die Hartz-Gesetzgebung verändert will.
Im Moment folgt Martin Schulz jedenfalls der Devise: Gefühl gewinnt. Und so bekommt die Passage, die er doppelt spricht auch doppeltgemoppelte Bedeutung. Schulz' betont, dass es in der Politik genau um dieses „Gefühl“ gehe, um das „Mitgefühl mit einzelnen Schicksalen“. Dies sei die Grundlage von solidarischer Politik. Meistens fasst sich Schulz dann an den Bauch, auch wenn die „Heute Show“ ihn dafür verulkt hat, weil er sagen will, dort muss man es auch spüren können. Schulz’ Erzählung geht so: Da ist der Student oder Auszubildende, der nachts aufwacht und nicht weiß, was er tun solle, weil er doch schon Hunderte Bewerbungen geschrieben und sich fortgebildet habe. „Haben wir das Gefühl, dass wir wissen, wie derjenige sich fühlt, wenn er nach allen diesen Bewerbungen keinen Job bekommt oder nur Praktika oder befristete Verträge“, fragt Schulz.
Nachts wachen bei ihm viele Bürger besorgt auf, auch die, die älter werden und nicht wissen, ob sie später die Pflegekosten tragen können; oder diejenigen, die normale Berufe haben, keine Geldsorgen, die ihre Kinder zur Schule bringen und in Vereinen arbeiten und sich dennoch fragen, wie Schulz annimmt: „Warum werde ich nicht respektiert?“ Schulz unterstellt ständig, dass die Menschen sich sorgen oder verunsichert seien. „Irgendwas“, ruft er, denn konkreter weiß er es nicht, gebe diesen Menschen das Gefühl, nicht ernstgenommen zu werden.
Schulz redet an diesem Abend wie immer völlig frei, er springt von der Innenpolitik und notwendigen Investitionen nach Europa und wieder zurück zu der Forderung nach Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Hochschule, weil ja die SPD das „Leben jedes Einzelnen ein Stückchen besser machen will“. Zwischendurch zitiert er den ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, der wiederum gerne das Grundgesetz zitierte: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Schulz sagt: „Rau hat immer gesagt, da steht die Würde des Menschen, nicht des Deutschen.“ Applaus.
Am tatsächlichen Ende, nach fast einer Stunde Redezeit, nachdem er noch die AfD und die Flüchtlingspolitik samt Europas Verantwortung abgearbeitet hat, steht: Gefühl. Standing Ovations und „Martin“-Sprechchöre. Das größte Kunststück an diesem Abend besteht für Schulz darin, sich nicht anzubiedern, nicht eine Sekunde zu versuchen, jugendlich cool sprechen zu wollen. Authentisch ist er schon. Johanna Uekermann überreicht ihm einen Spielzeugzug, weil ja der „Schulzzug nun auch bei den Jusos Fahrt aufgenommen“ habe. Der Kandidat hält ihn hoch wie eine Trophäe, Blitzlichter wie überall, wo er gerade steht, dann muss er los. Zum nächsten Termin.