Libyen, Syrien, Ägypten: Demokratie ist Leidkultur
Die Aufstände der jungen Revolutionäre in Nahost sind gescheitert. In Ägypten herrscht das Militär, in Syrien Bürgerkrieg und in Libyen überhaupt niemand mehr. Eine Kolumne über den unerträglich hohen Preis von Freiheit.
Es ließe sich gewiss viel über Muammar al Gaddafi sagen, aber er war kein Zechpreller. Das zumindest berichten mir Leute, die den libyschen Diktator fern der Heimat kennengelernt haben. Genauer: am einzigen wirklich schönen Ort, den es in Addis Abeba in Äthiopien gibt, dem Sheraton Hotel. Wann immer Gaddafi wegen irgendwelcher Treffen der Afrikanischen Union in der Stadt war, stieg er dort ab. Natürlich nicht in einer schnöden Präsidentensuite. Er mietete den gesamten Poolbereich, ließ für sich, seine Entourage und die Kamele Zelte aufstellen. Für die anderen Hotelgäste war das naturgemäß nicht so schön. Gaddafis Leibwächter gaben deshalb abends gratis Drinks an der Hotelbar aus. Botschaft: Der Mann ist Exzentriker – kein Unmensch.
Irgendwie scheint sich dieser Eindruck bis heute zu halten. Zumindest der, dass Gaddafi für das libysche Volk vielleicht das geringere Übel gewesen wäre. Mehr als fünf Jahre nach seinem Tod liegt das post-revolutionäre Libyen in Trümmern. Es gibt so viele Machthaber, das am Ende niemand das Sagen hat.
Offiziell regiert Ministerpräsident Fayiz as-Sarradsch, doch im Osten hat Ex-General Chalifa Haftar die Kontrolle. Dazwischen bekämpfen sich ungezählte Milizen, der Islamische Staat und al Qaida mischen mit. Es gibt Berichte über Sklavenhandel, Folter, Entführungen. Das politische System ist so instabil, dass Italien gerade ein Flüchtlingsabkommen lieber gleich mit 60 Stammesführern der Tuareg und der Tubu aushandelte, als mit Vertretern des Staates. Die Inflation ist so hoch, dass Lebensmittel unerschwinglich werden. Kurz: Es ist ein Desaster, das die Frage zulässt, ob es so eine gute Idee war, den verhassten Staatschef zu stürzen und das Land damit ins Chaos.
Angefacht werden Revolutionen oft von Leuten, die weit mehr Leben vor sich zu haben meinen, als hinter sich. Für die Veränderung eine Verheißung ist, weil sie mit dem Status Quo wenig zu verlieren haben. Es waren Jugendliche, die in Syrien „Nieder mit dem Präsidenten“ an Hauswände sprühten und damit den letzten Funken für den blutigsten Bürgerkrieg der Gegenwart gaben.
Ich selbst lief mit ägyptischen Studenten durch die tränengasverhangenen Gassen Kairos auf der Flucht vor Soldaten. Meine Freunde demonstrierten gegen die Militärherrschaft. Doch wenn man sie fragte, was sie denn wollen mit ihrer Revolution, bekam man oft ein Schulterzucken zu sehen, das wohl bedeuten sollte: alles, nur das hier nicht.
Dieser Tage muss ich deshalb oft an Omar al Bariki denken. Ich habe ihn 2012 auf den Stufen einer zum Wahllokal umfunktionierten ehemaligen Schule in Berlin-Pankow kennengelernt. Sein Zeigefinger war blau eingefärbt, und er war glücklich. Er, damals 29, hatte gerade das erste Mal in seinem Leben gewählt. Exil-Libyer aus ganz Europa durften in Berlin ihre Stimme abgeben. Das Recht dazu hatte er sich mit einer AK-47 erkämpft, er hatte dafür getötet. Dabei war er längst Student an der Technische Universität gewesen, als er in sein Heimatland zurückkehrte, sich den Rebellen anschloss und als einer der ersten in Tripolis einmarschierte.
Wir haben uns lange unterhalten, zwei Sätze aber werde ich nie vergessen. Bariki sagte: „Ich bin so froh, dass ich wählen konnte, sonst wäre alles umsonst gewesen.“ Und: „Freiheit ist doch das Wichtigste, oder?“
Ist sie das?
Das fragt man am besten jemanden, der den Kampf für die Demokratie dort aufgenommen hat, wo der Eifer der Jungrevolutionäre oft endet. Beim Papierkram. Nuri Graibei, 63 Jahre alt, war in den 70ern vor Gaddafi geflohen, weil der Oppositionelle öffentlich hängen ließ. Als Nationaler Berater hat er dann 2012 die Wahl im Exil organisiert und sich damit einen Traum erfüllt. Nun ist daraus ein Albtraum geworden. Doch als ich Graibei jetzt fragte, ob es das wert war, zögerte er nicht: „Absolut.“
Gaddafi mag kein Zechpreller gewesen sein, aber ein Massenmörder und Folterer, genau wie Baschar al Assad in Syrien. Hätte das Volk sie gewähren lassen sollen aus Angst vor den möglicherweise verheerenden Folgen? Vorhersehbar waren sie nicht, auch wenn Analysten gern den Eindruck erwecken, alles sei einer Notwendigkeit gefolgt – rückblickend versteht sich.
Vor einigen Tagen haben sich die Feinde Sarradsch und Haftar in Abu Dhabi getroffen und einen gemeinsamen Neustart für Libyen vereinbart. Es hat Jahre gedauert, der Preis war unerträglich hoch, doch jetzt ist da diese Chance auf Demokratie, die es mit Gaddafi nie gegeben hätte. Und Hoffnung. Die ist in Zeiten wie diesen vielleicht das Einzige, was noch wichtiger ist als Freiheit.
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