Erste freie Wahl: Wie Libyer in Berlin ihr Kreuz machten
Libyen hat am Samstag gewählt - es war die erste freie Wahl überhaupt. Auch in Berlin wurden Wahlurnen aufgestellt. Eine Reportage über zwei Männer, die dafür gekämpft haben: der eine mit seiner Waffe, der andere mit einem Traum.
In Libyen stehen sie an diesem Tag früh auf. Es ist Wahltag. Das kennt man dort nicht. 40 Jahre herrschte Gaddafi. Und als nun am Samstag die Wahllokale öffnen, bilden sich lange Schlangen. 2,9 Millionen Menschen haben sich vorab registrieren lassen, das sind 82 Prozent der Wahlberechtigten. In Berlin dauert dieser Wahltag 96 Stunden, aber Omar al-Bariki will auch zu den Ersten gehören.
Er betritt am vergangenen Mittwoch das Klassenzimmer einer ehemaligen Schule im Berliner Bezirk Pankow. Wortlos nickt er den Wahlhelfern zu und unterschreibt das Formular, das ihn als Wähler registriert. Der 29-Jährige hat noch nie in seinem Leben gewählt. Jeder Schritt wird ihm erklärt. Nur einen Moment hat er mit sich allein, hinter den Pappwänden der Wahlkabine, bevor alle Augen auf ihn gerichtet sind. Der neonbeleuchtete Raum im ersten Stock des verlassenen Flachbaus ist die Bühne seines Triumphes über Libyens Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi. Für diesen Moment hat er gekämpft, er hat dafür getötet.
Bariki ist Student, lebt in einer WG in Prenzlauer Berg. Er hat schwarze lockige Haare, trägt Sonnenbrille, ein rotes T-Shirt und Shorts. Vor einem Jahr zog er von Berlin aus los, in den Krieg, um an der Seite der Revolutionäre in Libyen zu kämpfen. Nun setzt er sich auf die Stufen vor dem Wahllokal. Der Zeigefinger seiner linken Hand ist mit schwarzer Tinte eingefärbt, als Zeichen, dass er gewählt hat. Gelöst, glücklich hockt er da. Über seinem Kopf ein Banner, auf dem in Arabisch geschrieben steht: „Stimmt hier ab. Libyen wählt.“ Dass, das nun einfach so gehe, überlegt Bariki laut. Einfach so frei zu bestimmen. Und doch kommen auch die Erinnerungen wieder hoch, an die schrecklichste Zeit seines Lebens. „Ich bin so froh, dass ich wählen konnte. Sonst wäre alles umsonst gewesen“, sagt er.
Alles – das sind die Menschen, die er verletzen musste, die Freunde, die er verloren hat beim Sturm auf die libysche Hauptstadt Tripolis. Bariki blinzelt durch die verdunkelten Gläser seiner Ray-Ban-Brille in die Sonne. Mit einem Taschentuch tupft er die Farbe an der Fingerkuppe trocken. „Freiheit ist doch das Wichtigste, oder?“
Nur zögerlich spricht er darüber, was er für diese Freiheit aufs Spiel gesetzt hat. Am liebsten würde er es verdrängen. Versucht hat er es. Erst mit Schweigen. Dann, als die Dämonen trotzdem wieder kommen, betrinkt er sich immer häufiger, wird depressiv. Er weiß, sagt er, dass viele dächten, es sei „verrückt“ gewesen, was er gewagt habe. Dabei war er nur wütend. Zwei Tage nach Beginn des Volksaufstandes gegen Gaddafi wurde sein Bruder bei einer Beerdigungszeremonie erschossen. Nur fünf Menschen sagt er Bescheid, als er kurz nach Ende des Sommersemesters nach Tunesien aufbricht und sich von dort aus ins libysche Nalut, zu einem Trainingslager der Tripolis-Brigade durchschlägt.
„Ich wollte nur ein paar Wochen bleiben.“ Am Ende waren es Monate.
Seinen Eltern sagt er nichts. Für sie ist er weiter der Sohn, der an der TU-Berlin alternative Energien studiert. Barikis Vater, Mohammed, war General unter Gaddafi. Er gehörte zu jenen Offizieren, die 1969 gegen den damaligen König Idriss I. putschten und Gaddafi zur Macht verhalfen. Er ahnt nicht, dass sein Sohn, den er fünf Jahre zuvor der guten Ausbildung wegen nach Deutschland geschickt hatte, gegen das alte Regime kämpft. Erst Monate später erfahren die Eltern davon. Die Mutter weint. „Mein Vater sagte nur, es sei dumm gewesen, aber er hat es verstanden“, erinnert sich Bariki. Auch der Vater hatte sich nämlich im weiter östlich gelegenen Benghasi den Revolutionären angeschlossen.
Bariki ist dabei, als seine Gruppe mit dem Namen Gamal el-Faitori in Tripolis als eine der ersten Rebelleneinheiten einmarschiert. Acht „Waffenbrüder“, wie Bariki die Revolutionäre seiner Einheit nennt, sind da bereits tot. Später sieht er mit an, wie ein Freund von ihm angeschossen wird und bringt ihn zur Behandlung nach Tunesien. Bariki selbst entkommt mit einem Streifschuss an der rechten Hand. In der hält er nun den Zettel, der ihn zum Wähler macht.
„Mabruk“, sagt ein weißhaariger Herr in grauem Nadelstreifenanzug, der auf Bariki zutritt. Glückwunsch. Sie begrüßen einander wie alte Freunde, dabei sind sich der Kämpfer Bariki und der Herr Nuri Graibei zuvor noch nie begegnet. Sie verkörpern zwei Generationen und zwei Arten, mit der Revolution umzugehen. Der 56-jährige Graibei hat sie dort fortgesetzt, wo Bariki aufhörte. Ohne Waffe. Sein Kampf fand in halb leeren Sitzungssälen statt. Papierkram, Bürokratie. Er ist der Berater der Hohen Nationalen Wahlkommission Libyens in Deutschland. Das Pankower Wahllokal ist eines von sechs außerhalb Libyens, die über die Welt verteilt sind. Graibeis Aufgabe: die Wahl zu überwachen, aber auch Wähler zu mobilisieren, aufzuklären.
Wenige Tage zuvor steht Graibei in einem Konferenzraum des Hotels Estrell in Neukölln. In dem Komplex sollen etwa 70 Libyer, die nach der Revolution zur medizinischen Versorgung nach Deutschland kamen, untergebracht sein. Zu Nuri Grabeis Vortrag über das etwas kompliziertere libysche Wahlsystem erscheinen elf Männer. Die junge Generation der Widerstandskämpfer für die Regularien der Demokratie zu begeistern, funktioniert nicht bei allen. Die, die kommen, gehen meist noch an Krücken. Einer verlor beim Kampf gegen Gaddafis Truppen die Hälfte seiner Hand, andere begleiten nur Angehörige, die noch zur Therapie in Berliner Krankenhäusern sind.
Graibei liest die nüchternen Fakten zur Wahl von seiner eigenen Powerpoint-Präsentation ab: Wahlalter 18, frei und geheim, 13 Distrikte. Das ist es also. Dafür haben sie gekämpft. Jeder Satz Graibeis wird von den elf mit Handykameras dokumentiert, auf Facebook verbreitet. Graibei wundert sich nicht mehr. Er kennt das schon von Veranstaltungen in Hamburg oder Düsseldorf in den zurückliegenden Wochen. Es ist eben das erste Mal. Entsprechend hoch sind die Erwartungen.
„Was ist mit Libyern in Italien oder Frankreich?“, will einer wissen. Graibei hat die Frage schon oft gehört. Eine Briefwahl gibt es nicht, abstimmen kann man nur in Kanada, Jordanien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Großbritannien, den USA und Deutschland. „Ihr wollt zu viel auf einmal“, sagt er dann immer. Es gehe nur Schritt für Schritt.
Wie oft musste sich der Geschäftsmann mit einem Unternehmen in Memmingen in letzter Zeit rechtfertigen dafür, was noch zu verbessern sei an der ersten freien Wahl Libyens. Dabei geht gerade auch für ihn ein Traum in Erfüllung, an den er schon fast nicht mehr geglaubt hatte.
Und nun nimmt dieser Traum fünf Quadratmeter ein. So groß ist das Büro in der Berliner Wallstraße, das ihm zur Verfügung steht. Er teilt es sich mit einem Mitarbeiter. Vor seiner Tür stapeln sich Plakate, Landkarten mit Wahlbezirken, Info-Flyer. Und jetzt zieht Graibei einen grünen libyschen Personalausweis aus seiner Aktentasche, längst ist er deutscher Staatsbürger, er hat ihn trotzdem 34 Jahre aufbewahrt, den Traum nicht aufgegeben. Der Ausweis fällt fast auseinander, als er ihn aufklappt, um dass Foto zu zeigen. Graibei ist darauf kaum wieder zu erkennen. Es zeigt ihn als jungen Mann von nicht einmal 20 Jahren, mit langer schwarzer Mähne. Damals war er Basketballspieler im libyschen Nationalteam. Ein Foto von sich, aufgenommen bei einem Spiel, kann er jedes Mal sehen, wenn er den Computer startet. Es ziert den Desktophintergrund.
Der Entschluss, sein Land zu verlassen, fiel in der Zeit, als immer mehr seiner Freunde plötzlich verschwanden, junge Sportler seines Teams von der Kabine weg zum Militär verfrachtet wurden und Gaddafi Ende der 70er Jahre Oppositionelle öffentlich hängen ließ. Eine leichte Nackenverletzung diente ihm als Vorwand, um sich zur Behandlung nach Deutschland abzusetzen. Er kehrte nie zurück. Da war er gerade 22 Jahre alt.
Graibei ist nicht in den Krieg gezogen. Er wollte seinem Land friedlich helfen. Der lange Arm des Regimes hatte ihn in Deutschland dennoch aufgespürt. Graibei greift in die Schublade seines Schreibtischs und zieht einige alte Zeitungsartikel hervor. Sie berichten vom Mord an seinem Freund Gebril el-Denali, der 1985 auf offener Straße in der Bonner Innenstadt von einem Libyer erschossen wurde. Graibei vermutet den libyschen Geheimdienst hinter der Tat. Zusammen mit Denali hatte er Flyer verteilt, Stimmung gemacht, gegen Gaddafis Diktatur. Nach dem Mord tauchte Graibei in Koblenz unter, eröffnete später ein Geschäft in Memmingen, gründete eine Familie.
In Tripolis haben sie sich an den Oppositionellen von damals erst im Juni dieses Jahres zurück erinnert. Da bekam er den Anruf, dass er nationaler Berater für die Wahlkommission werden sollte. Nun beobachtet er sehr genau wie die Wahl abläuft. Sein Team besteht aus 30 Wahlhelfern. Aber sie sitzen am ersten Tag in aufgeräumten Klassenzimmern und warten. 19 Wähler werden es am Abend gewesen sein. Jeder wird am Eingang mit Handschlag begrüßt. Das ist freundlich. „Aber wir überprüfen so auch unauffällig, ob jemand Tinte am Finger hat und also schon gewählt hat“, erzählt ein Wahlhelfer.
Am nächsten Tag gegen Mittag betritt eine junge Familie mit Kinderwagen das Wahllokal. Bevor der Mann und die Frau in der Wahlkabine verschwinden, diktiert der Mann seiner Frau bereits wo das Kreuz zu machen sei. Das hätte nicht passieren dürfen. Auf das Phänomen der „Familienwahl“ sind sie hier eigentlich vorbereitet. „Beim nächsten Mal trennt ihr Familien schon an der Tür und leitet sie zu unterschiedlichen Räumen“, weist Graibei die Wahlhelfer an.
Wie die meisten Libyer wissen auch die in Berlin erwarteten 200 Wähler nicht, wer die Menschen sind, die sich um die Macht in der Nationalversammlung bewerben. 120 der 200 Sitze gehen an Einzelkandidaten, die nur nach ihrem Lebenslauf beurteilt werden können. Auf jeden Sitz bewerben sich etwa 20 Kandidaten. Die Namenslisten, die Nuri Graibei vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat, sind endlos. Dazu kommen etwa 160 Parteien. Auf den Wahlzetteln sind sie mit kleinen Symbolen gekennzeichnet. Etwa einem Adler oder einer Sonne. Die Muslimbruderschaft, die in Ägypten bereits mit einer überwältigenden Mehrheit ins Parlament einzog, gilt auch in Libyen als Favorit. Nuri Graibei ist nicht so wichtig, wer gewinnt. „Wir haben jetzt hier die Chance zu zeigen, dass eine neue Epoche für Libyen anbricht, dass wir alle einander akzeptieren“, sagt er.
Aber auch er hat mitbekommen, dass Milizen in der Vorwoche das Büro der Wahlkommission in Benghasi angegriffen und Stimmzettel verbrannt haben. Und am Wahltag selbst kommt es im Osten erneut zu Gefechten, einige Wahllokale bleiben geschlossen. Fast jeder Libyer hat inzwischen eine Waffe. Und dem Nationalen Übergangsrat ist es bisher nicht gelungen, die Macht der Milizen zu brechen. Auch Barikis Tripolis Brigade war im Juni noch einmal in Gefechte mit verfeindeten Stämmen in der Region von Zintan verwickelt.
Bariki, der Kämpfer, hat seine Kalaschnikow längst wieder gegen eine Unitasche eingetauscht. Nun wartet er auf der Treppe vor dem Wahllokal auf einen Freund. Als der kommt, weist Bariki ihm den Weg zur Wahlkabine. Nach der Stimmabgabe wollen sie feiern. „Es ist so ein schöner Tag und die Sonne scheint“, sagt Bariki. Er glaubt, dass es nun aufwärts geht, er will es glauben, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. „Weil mehr als 50 000 Tote in diesem Krieg genug sind.“
Dann kehrt der Freund mit einem schwarzen Finger zurück. Sie müssten, sagt Bariki, die alten Gräben vergessen, die Erinnerungen an die Schlachten aus dem Kopf bekommen. Irgendwie. Und der Mann der seinen Bruder erschossen hat? Bariki zögert: „Ich verzeihe ihm.“