Manga "One Piece": Zur Suche, zur Freiheit
Der Piraten-Manga „One Piece“ begeistert seit Jahren nicht nur seine japanischen Fans. Vordergründig geht es um die Suche nach einem legendären Schatz. Doch längst bespricht Autor Eichiirō Oda in seinem Shonen Gesellschaftsthemen – und schaut auch auf die deutsche Geschichte.
Für einen Manga ist das erst mal eine erstaunliche Leistung. Seit drei Wochen steht der 65. Band von „One Piece“ in der Top-100-Bücherliste des Online-Händlers Amazon, zwischenzeitlich auf dem 18. Verkaufsrang, vor Titeln von Tom Wolfe, Adler Olsen oder Florian Illies. „Auf Null“, so der Name des aktuellen Bandes, hält sich in der Bestsellerliste wie ein Belletristik-Krimi. Und tatsächlich kann man die Mangaserie „One Piece“ als genau das begreifen: als Krimi, als Belletristik, als Bestseller.
Die Serie ist ein klassischer Shōnen-Manga, also eine Abenteuererzählung für heranwachsende Jungs – im Gegensatz zu den Shōjo für Mädchen. Es geht, einfach gesagt, um Kämpfe zwischen Gut und Böse, um Freundschaften, um Willensstärke.
Ein junger Mann namens Monkey D. Luffy sticht in See, um eines Tages Piratenkönig zu werden. Von der ersten Folge an wird im Manga ein klarer Handlungsbogen definiert: Luffy muss eine Crew aufbauen und die Grandline, eine Art äquatorialer Seeweg, komplett umsegeln, um Piratenkönig zu werden. Denn am Ende der Grandline, so will es die Legende, wartet der Schatz von Gold Roger, dem alten, bereits verstorbenen Piratenkönig: das „One Piece“.
Doch wäre die Handlung so leicht, wie sie ihr Schöpfer Eiichirō Oda 1997 in seinem ersten Kapitel skizzierte, dann wäre „One Piece“ schon längst auserzählt. Aber die Piratensaga erscheint nun seit 16 Jahren wöchentlich im japanischen Mangamagazin „Shonen JUMP“ – und findet mehr und mehr Leser. Nächste Woche feiert Mangaka Eiichirō sein 700. Kapitel.
Der Autor hat es geschafft, den ursprünglich klaren Rahmen mit dichten Erzählungen, aberwitzigen Charakteren und Reminiszenzen an Kunst und Kultur zu füllen. Es mag für Monkey D. Luffy immer noch darum gehen, Piratenkönig zu werden, für seinen Erschaffer geht es um weit mehr. „One Piece“ ist nicht mehr ein bloßes Piratenabenteuer für Jungs. Mit dem Älterwerden des Mangaka – beim Start war Eiichirō 22 Jahre alt – und dem seiner Leser ist „One Piece“ zu einem philosophischen und gesellschaftskritischem Fortsetzungsroman geworden.
Es gibt da zum Beispiel die Erzählung um die Fischmenscheninsel. In eine Seifenblase gehüllt lebt da ein Volk von Meermännern und Meerjungfrauen in 10.000 Metern Tiefe. Wenn immer einer an die Oberfläche taucht, wird er gejagt, versklavt und als Exemplar einer „niederen Rasse“ von den Menschen geschunden. Neptun, König dieser Fischmenscheninsel, verzweifelt am Fremdenhass, der ihm von Seereisenden entgegenschlägt und den auch sein eigenes Volk von Fischmenschen gebiert. Als sich Neptuns Sohn in einer Rede ans Volk wendet, träumt er davon, eines Tages gemeinsam mit den Menschen „unter der Sonne“ zu leben.
Man muss darin keine Nähe zu Martin Luther King sehen. Aber es wird deutlich, dass Eiichirō aus dem Vollen schöpft: Die Themen Sklaverei und Rassismus platzieren sich da irgendwo zwischen römischer Geschichte und amerikanischem Bürgerkrieg.
Oder „Impel Down“, das Unterseegefängnis der Weltregierung. In einer Art Danteschen Hölle werden hier Piraten und andere Bösewichter von der Marine gefangen gehalten. Je tiefer die Stockwerke unter der Wasseroberfläche liegen, desto markerschütternder werden die Gefangenen gefoltert.
Die Marine steht im Manga offiziell für das Gute. Je weiter aber der Titelheld Luffy und seine Freunde – sie nennen sich die „Strohhut-Piraten“ – segeln, desto deutlicher wird, dass sich das Gute nicht in Kategorien, sondern in Handlungen äußert. So nehmen Marineadmiräle den Tod von Zivilisten in Kauf, säubern die Bevölkerung von unliebsamen Wissenschaftlern oder experimentieren im Geheimen mit Massenvernichtungswaffen. In einer großen Schlacht zwischen Marinesoldaten und Seeräubern bemerkt ein Pirat, der sich – ausgerechnet – von der Regierung hat kaufen lassen: „Gerechtigkeit wird nicht in Kategorien gemessen. Was gut ist und was böse, entscheidet, wer den Krieg gewinnt.“
Auch hier kann man „One Piece“ als das lesen, was es zunächst ist: ein Shonen, ein fantastisches Abenteuer mit möglichst gigantischen Bedrohungen und noch gigantischeren Siegeszügen seiner Helden. Die riesige Giftgasexplosion wird überwunden, weil es Nervenkitzel ist – und der Gefängniswärter besiegt, weil es Spannung ist.
Aber doch rufen Eiichirōs Zeichnungen unweigerlich Assoziationen hervor, die über die Mangageschichte hinausgehen, die einen moralischen Kompass für seine Leser bilden. Dann sehen die Opfer der Giftgaswolke wie Hiroshima-Tote aus und die Jacken der „Impel Down“-Wächter wie SS-Uniformen.
Überhaupt schöpft Eiichirō Oda nahezu ausufernd aus einer globalen Kulturgeschichte. Von Aeneas bis Eminem: griechische und arabische Mythen tauchen ebenso auf wie US-Rapper oder japanische Arthouse-Schauspieler. Und natürlich holt sich der Mangaka Anleihen aus der Seefahrt. „Wickie und die starken Männer“, die deutsch-japanische Anime-Serie aus den Siebzigern, sei sein Vorbild für das Piratenabenteuer gewesen, sagte Eiichirō in einem Interview. Ebenso Akira Toriyamas „Dragon Ball“. Doch längst hat sich „One Piece“ über die Jahre emanzipiert und ist heute ein wilder Mix aus Gesellschaftskritik, Piratenabenteuer und Kulturrutsch.
Eiichirōs Artwork bleibt dabei weitestgehend schlicht. Zwar zeichnet er Inseln, Städte und Schauplätze sehr detailverliebt – und bedient sich ebenso in der italienischen Renaissance wie beim Schloss Neuschwanstein. Doch sind seine Figuren weniger ausdifferenziert als zum Beispiel bei berühmten Mangaka wie Naoki Urasawa oder Jiro Taniguchi. Wenn Titelheld Luffy verärgert ist, dann genügen kleine Pupillen und zwei Wutstriche über der Nase. Eiichirō orientiert sich hier an den ironischen Linien von Osamu Tezuka oder, wie der Mangaka selbst zugab, an dem US-Cartoon „Tom & Jerry“: Gefühlsregungen seiner Figuren müssen nicht wirklichkeitsgetreu sein, sie müssen sichtbar sein.
Es gibt mittlerweile eine Anime-Adaption, Konsolenspiele, zwölf Kinofilme und weltweit Übersetzungen in sieben Sprachen. In Japan führen die „One Piece“-Sammelbände alle Bestsellerlisten an: Mit dem Start des 69. Bandes wird in den nächsten Monaten wahrscheinlich die 300-Millionen-Marke durchbrochen werden. Umgerechnet würde das bedeuten, dass dann jeder Japaner mehr als zwei Bände, die so genannten Tankōbon,zuhause stehen hat. In den vergangenen Jahren verkaufte „One Piece“ mehr Tankōbonals alle Plätze 2 bis 9 der Mangacharts zusammen – und dort lauern Erfolgstitel wie „Naruto“, „Bleach“ oder die Newcomer „Fairy Tail“ und „Toriko“.
Auch in Deutschland sind die Bände Bestseller. Carlsen startet jede Folge mit 40.000 Exemplaren, nach drei Monaten muss stets nachgedruckt werden. Insgesamt hat „One Piece“ hier eine Auflage von 3,5 Millionen erreicht – und liegen damit nur noch hinter dem Manga-Urgestein und Vorbild „Dragon Ball“. Dessen 42 Bände verkauften sich bisher sieben Millionen Mal. Doch die Zeit spielt Eiichirō in die Hände.
In seiner Erzählung hat die Strohhut-Piraten nun die halbe Grandline, ergo den halben Erzählstrang, umsegeln lassen. Die Suche nach dem Schatz ist zu einer Suche nach Freiheit, der Weg ist zum Ziel geworden. Das alles nach 16 Jahren und 700 Einzelkapiteln Erzählzeit. Ob nun Eiichirō weitere 700 Kapitel Zeit erhält, um den jungen Piratenkapitän Luffy ans Ziel zu zeichnen, wird sich weniger an seinem Artwork messen. Es ist vielmehr die Erzählung, die die Fans von „One Piece“ bei Laune halten muss. Und man kann darauf wetten, dass es Eiichirō gelingen wird.
Eichiiro Oda: One Piece, 68 Bände, fortlaufend. Auf Deutsch erschien zuletzt Band 65 bei Carlsen Manga, 5,95 € je Band.
Marc Röhlig
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