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Künstlicher Knirps: Eine Doppelseite aus dem Abschlussband.
© Carlsen

Science-Fiction: Herr der Roboter

Komplex, wagemutig, klug: Die Serie „Pluto“, die jetzt auf Deutsch komplett vorliegt, überträgt die Fantasien des Manga-Pioniers Osamu Tezuka ins 21. Jahrhundert.

Ein fliegender Roboterjunge mit Kernreaktor im Innern, 100 000 PS stark, aus seinem Hinterteil Schusssalven gegen das Böse abfeuernd: Als der Held mit dem Namen Atom 1963 in der Fernsehserie „Astro Boy“ seinen ersten Auftritt hatte, war das eine Sensation. Es war der Beginn fortlaufender Trickfilmserien im japanischen Fernsehen, Anime genannt. Ihr Schöpfer: Osamu Tezuka (1928-1989), von Fans als „Gott des Mangas“ verehrt.

Jetzt hat sich der Autor und Zeichner Naoki Urasawa, Jahrgang 1960, an das Erbe gewagt – und für seine Mangaserie „Pluto“ (Carlsen, je Band ca. 200 S., je 12,90 €) neben diversen japanischen Auszeichnungen auch viel Lob im Westen bekommen, so den „Prix intergénérations“ des wichtigsten europäischen Comicfestivals in Angoulême. Dieser Tage erscheint der achte und letzte Band der Reihe auf Deutsch. Einen besseren Manga findet man derzeit kaum.

Auch, weil Urasawas Projekt wagemutig ist. Denn er nimmt es mit einem Werk auf, das sowohl Manga- als auch TV-Historie schrieb. In der Astro-Boy-Episode „Der größte Roboter auf Erden“ ließ Tezuka seinen künstlichen Knirps gegen den Riesenroboter Pluto wie einst David gegen Goliath antreten. Diese populärste Geschichte von „Astro Boy“ stellte eine Wende in der Entwicklung Atoms dar, weil die Figur nach dieser Begegnung nicht mehr die gleiche war.

Feinkalibriert wie ein Uhrwerk

Just diese Episode haben Naoki Urasawa und sein Koautor Takashi Nagasaki zum Sockel ihrer Comicserie auserkoren. Wie Atom gegen Pluto, so fordert Urasawa-David heute einen Tezuka-Goliath heraus, der entgegen der Bibelgeschichte nicht tumb ist, sondern vom Herausforderer hochverehrt.

Geniestreich: Eine Seite aus dem "Pluto"-Abschlussband.
Geniestreich: Eine Seite aus dem "Pluto"-Abschlussband.
© Carlsen

Doch Urasawa kennt Finten. Klug zieht er die Komplexitätsschraube einfach weiter an – und aus dem Tezuka-Stoff einen Science-Fiction-Krimi heraus, feinkalibriert wie ein Uhrwerk, dabei weder kalt noch mechanisch. Schon allein, weil Urasawas Hauptfigur überraschenderweise zunächst nicht Atom, sondern ein Inspektor mit dem Namen Gesicht ist. Wie Urasawa den legendären Atom einführt, ist ein weiterer Geniestreich. Als Kommissar von Europol soll Gesicht den Fall des ermordeten Roboters Mont Blanc aufrollen. Der ist aufs Engste mit seiner eigenen Existenz verknüpft; schließlich ist auch Gesicht ein künstlicher Mensch und gehört zu den sieben stärksten Menschmaschinen der Zukunft.

Konfrontation der Physiognomien

Nicht zufällig gemahnt der Name seines Erfinders Dr. Hoffmann an den Schöpfer der „Automate“, E.T.A. Hoffmann. Und dass Urasawa Gesichts Geschichte zum alles verbindenden Handlungsstrang macht sowie das Geschehen im futuristischen Düsseldorf beginnen lässt, hat einen ebenso guten Grund: Manga-Übervater Tezuka war promovierter Arzt, Deutsch, als Japans damalige Fachsprache der Medizin, beherrschte er, weswegen in seinen Arbeiten wiederholt Deutschland-Bezüge auftauchen. Urasawa bezieht sich darauf; schon sein Manga „Monster“ begann ebenfalls in Düsseldorf, dem wichtigsten Standort Japans in Deutschland.

Komplett: Kürzlich erschien der achte und letzte Band, hier zusammen zu sehen mit dem siebten.
Komplett: Kürzlich erschien der achte und letzte Band, hier zusammen zu sehen mit dem siebten.
© Carlsen

„Pluto“ weist ein ebenso dichtes Intertextualitätsgeflecht wie die Arbeiten Tezukas auf. Einerseits greift Urasawa immer wieder auf dessen Oeuvre zu, andererseits liefert er mit Anspielungen auf den zweiten Irakkrieg aus der Perspektive der Zukunft einen mündigen Kommentar zur politischen Gegenwart.

Am treuesten bleibt Urasawa dem Mythos Tezuka aber, wenn er ganz vom Vorbild abweicht. Und das vor allem auf stilistischer Ebene, wodurch es förmlich zu einer Konfrontation der Physiognomien kommt: Tezukas disneyesk rundlichem Zeichenstil stellt er seine realistischen Figuren – hauptsächlich ihre Gesichtszüge – gegenüber, sie sehen menschlich aus. Gesicht etwa hat ein geradezu beamtendeutsches Antlitz. Der großäugige Seelenblick aber bleibt. Bei Urasawa ist er zur psychologischen Eintrittspforte für das Paradox der Menschlichkeit in der Hülle des Künstlichen geworden – wie ein Roboter, der eigentlich nur der größte auf Erden sein kann, indem er seinem Schöpfer, dem Menschen, ähnelt. Und wie eine Geschichte, die gegen ihren eigenen Erfinder antritt, um ihm zu huldigen.

Melanie Stumpf

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