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Unheilig-Sänger Der Graf in Berlin.
© Geisler-Fotopress/Behring

Unheilig live in Berlin: Zuflucht und Wiege

Schlagergrock mit Schnittchen: Der Graf und seine Band Unheilig beim Classic Open Air am Gendarmenmarkt.

Wie alt ist der Herr Graf? Schwer zu sagen mit der zeitlosen Frise: Beim Classic Open Air auf dem Gendarmenmarkt sieht er aus wie irgendetwas Agiles zwischen Ende 30 und Mitte 40. Er trägt, wie immer, glänzende Pläte zu weißem Hemd, schwarzer Krawatte, schwarzer Hose, das Kinnbärtchen ist perfekt getrimmt, die Augen unter den Schlupflidern schauen wach. Er rennt von einem Ende der Bühne zum anderen, animiert auf beiden Seiten die Fans zum Hände heben, zum „Bitteschön!“ rufen, wenn er „Dankeschön!“ sagt. Das Bitteschön-Dankeschön ist somit in zweierlei Hinsicht ein – wenn auch recht pointenloser – Running Gag. Doch der Graf variiert zuweilen seine höfliche Publikumsagitation: „Ich finde ihr seid der absolute...“ „Hammer!!!“ schallt es ihm entgegen wie aus einer Kehle.
Das Publikum ist wirklich der Hammer. Vorne eine kleine Fanfront in Unheilig-Shirts, das einem wackeligen Dreizack ähnelnde UH-Logo auf dem Rücken, dahinter reihenweise und bis in die Tribünen hinauf begeistertes Sitzfleisch. Gegenüber der Bühne auf dem Gendarmenmarkt stehen zudem ein paar Menschen – vermutliche Forscher – an den großen Fenstern der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und evaluieren Daten für eine soziologische Erhebung über den Unheilig-Fans an sich: Wer ist er? Woher kommt er? Hat er Geschmack? Geht er in den ZDF-Fernsehgarten? Kennt er Rammstein, kennt er Roland Kaiser, könnte er gegebenenfalls (natürlich nicht heute) auch auf die 2 und 4 klatschen?
Letzteres ist unwahrscheinlich. Aber irgendeine Verbindung zwischen der Schlagerszene und der nach eigener Angabe im Gothic-Bereich verwurzelten Band aus Aachen muss es geben: „Ich schau zurück auf eine wunderschöne Zeit / Warst die Zuflucht und die Wiege meines Seins / Hast gekämpft und jeden Moment mit mir geteilt / Ich bin stolz auch jetzt bei dir zu sein“ – das ist Michael Holm wie er leibt und lebt, nur eben in Schwarz und ohne Blumengaben aus den ersten Reihen.

Den Unheilig-Hit "Geboren um zu leben" singen alle mit

Was die Texte des Grafen taugen, beweist auch das alte Gesetz, nach dem ein Song dann inhaltlich spannend ist, wenn die Vorstellung, Blixa Bargeld würde ihn mit all seiner Inbrunst hinausquetschen, während hinten N. U. Unruh mit Metallstangen herumdölmert, einem Freude bereitet. Angewendet auf Unheilig-Texte funktioniert das nicht: „Freiheit / ich will nicht leise sein / Freiheit / ich will noch lauter schreien“ – das ist nicht nur im Versmaß das Gegenteil von Subtilität.
Aber Respekt, Herr Graf! So beeindruckend direkt muss man erst mal sein. Und so konsequent: Von dem Mann mit dem Adelstitel-Pseudonym existiert kein einziges Bild im Internet, auf dem er noch Haare hat, seinen Klarnamen oder auch nur mal einen Jogginganzug trägt. Der Leadsänger der 1999 gegründeten Band ist entweder ein saucleverer IT-Strippenzieher, oder hat vor dem Erfolg ganz einfach nüscht gemacht. Irgendwann muss er dann gemerkt haben, dass es einen bis dato unsichtbaren Spot zwischen Heavy und Ultralight gibt, ein Verlangen nach vagen, global und persönlich in alle Richtung deutbaren Texten, nach Reimen wie Zeit / Ewigkeit, geben / leben , das alles zusammengefasst in dem Markenzeichen Glatze + Titel, dazu diese Sprechstimme, die Dieter Thomas Heck ähnelt: Erstaunlich, wie sehr das tiefe Organ des Grafen und seine deutliche Aussprache an den ZDF-Showmaster erinnert.

„Gothic with a smile“ eben, und dafür ohne Ironie. In der verregneten Konzertpause strömt das gut gelaunte Publikum zum Essen und Trinken in die VIP- Lounge. VIP ist nämlich, wer das All-Inclusive-Ticket gekauft, und sich damit einen Platz am Buffett gesichert hat. Danach ist die Stimmung sogar noch besser, und fast alle stehen auf, um gegen Ende den Megahit „Geboren um zu leben" mitzusingen. Trotz textlicher und musikalischer Allgemeinplätze, und in aller gebotener Harmlosigkeit genießen die Fans das Konzert, als ob sie noch nie eines erlebt hätten. Als ob es Drugs, Sex, Rock und Diskurs in aktueller Musik nicht geben würde. Der Graf und seine Band können zufrieden sein: Eine Stimmung wie auf dem Clubschiff Aida. Fehlt nur noch der Ententanz.

Jenni Zylka

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