Kultur: Muttis Bester
„Der Graf“ und die erfolgreichste Band des Jahres: Versuch über Unheilig
Falls Verteidigungsminister zu Guttenberg demnächst eine Werbekampagne für seine neue Freiwilligenarmee starten will, sollte er mal beim Management von Unheilig durchklingeln. Denn der Gründer und Kopf der Gruppe – er nennt sich „der Graf“ – war vier Jahre lang Zeitsoldat. So von Graf zu Graf hilft man sich doch gern. Und der Unheilige hat nur Gutes über die Bundeswehr zu berichten: „Ich hatte dort ein super Leben. Das war damals so: Man is nix, man kann nix, aber man kriegt Geld.“ Außerdem habe er dort eine Krankenpflegerausbildung und einen Lkw- Führerschein gemacht. Nebenbei konnte er sich vom Sold all die teuren Synthesizer kaufen, die er unbedingt haben wollte. Als der Musiker merkt, dass er ein bisschen ins Schwärmen gerät, schiebt er schnell hinterher: „Heute ist das natürlich eine ganz andere Baustelle.“
Wann genau seine Bundeswehrzeit war, verrät er nicht. Ebenso wenig wie sein Alter und seinen wirklichen Namen. Die Geheimniskrämerei hat Methode bei dem Mann mit der Glatze und den markanten Bartdreiecken am Kinn. Durch die Kunstfigur Graf schottet der Musiker sein Privatleben ab. Er spricht zwar über seine Familie, will aber verhindern, dass plötzlich Kamerateams vor dem Haus seiner Eltern stehen. Das würde garantiert passieren, wenn mehr als die groben Koordinaten Aachen, wahrscheinlich Würselen bekannt wären. Denn der Graf ist mit Unheilig in diesem Jahr in den Rang eines Superstars aufgestiegen. Mit dem Pathos-Rock-Album „Große Freiheit“ führte er 20 Wochen die deutschen Charts an. Zuletzt hatte Herbert Grönemeyer 1988 mit „Ö“ 14 Wochen auf Platz eins gestanden. 1,2 Millionen Mal verkaufte sich die Unheilig-Platte, die auch in einer erweiterten „Winteredition“ für das Weihnachtsgeschäft wieder an die Hitparadenspitze schoss.
Vor allem der Single „Geboren, um zu leben“ konnte man in diesem Jahr kaum entgehen, auch weil ein Privatfernsehsender sie für Werbetrailer benutzte. Als Unheilig dann noch Stefan Raabs Bundesvision Song Contest gewannen, kannte ein Großteil der deutschen TV-Zuschauer den stets im schwarzen Anzug oder Frack auftretenden Musiker.
Sein Erfolg kommt keineswegs aus dem Nichts: Unheilig gibt es schon seit zehn Jahren. Vor allem in der düsteren Gothic-Szene erspielten sie sich eine feste Fanbasis und gerieten schließlich in den Focus einer großen Plattenfirma. Der Branchenriese Universal brachte „Große Freiheit“, das siebte Unheilig-Album, heraus. Das habe sicher auch geholfen, gibt der Graf in seinem leicht rheinisch eingefärbten Tonfall zu. Doch letztlich sei er den „klassischen Rock-’n’- Roll-Weg“ gegangen. Das heißt: spielen, spielen, spielen und immer an das eigene Ding glauben.
Musikalisch setzt der gelernte Hörgeräte-Akustiker auf eine Mischung aus aufgeblasenem Synthie-Rock, schlagerkompatiblen Mitsingmelodien und pseudotiefgründigen Texten. Das klingt dann so, als hätten sich Rammstein mit Pur zu einer Supergroup des Grauens vereinigt. „Wenn ich ein härteres Lied wie ,Maschine‘ oder ,Abwärts‘ mache, will ich, dass das wie Rammstein klingt. Schließlich haben die ihren eigenen Musikstil geschaffen. Das muss man erst mal hinbekommen“, sagt der Graf, der neben der Berliner Haudruff-Kapelle auch Herbert Grönemeyer sehr verehrt.
Seine Unheilig-Texte schlingern zwischen diesen beiden Vorbildern. „An den Händen reißt und kämpft das Ruder/Gräbt sich tief ins Fleisch hinein/Schwarzer Rauch schraubt sich zum Himmel hoch/Auf der See ein Aschekleid“ singt der Graf etwa in „Unter Feuer“ mit extratiefer Stimme. Wenn er noch das „R“ rollen würde, könnte man ihn mit Till Lindemann verwechseln. Doch so seelenzerquält wie der Rammstein-Sänger würde sich der ehemalige Heimorgelschüler niemals geben. Auch sind seine Konzerte, bei denen ihm unauffällige Miet-Musiker zur Seite stehen, nicht mit den pyrotechnisch aufwendigen Größenwahnspektakeln von Rammstein zu vergleichen. Außer einem Dutzend Kerzen brennt nichts bei Unheilig-Konzerten. Dafür werden auf einer Leinwand die Texte eingeblendet, und der Graf animiert freudig die Publikumschöre. Überhaupt gilt der Star als extrem fanfreundlich. Stundenlang schreibt er Autogramme oder lässt sich mit seinen Anhängern fotografieren.
Spätestens seit er keine bodenlangen Umhänge und gruseligen weißen Kontaktlinsen mehr trägt, wirkt er wie der gepflegte Popstar von nebenan. Dass er auch offen über Schwächen wie Gewichtsprobleme reden kann, hat ihm sicher noch mehr Popularität gebracht. Mit der Schüchternheit, die er als Kind gehabt haben soll, kokettiert er nicht nur. Das zeigt sich etwa in der Mitte des Gesprächs, als er immer wieder mit Wortfindungsschwierigkeiten kämpft und leicht zu stottern beginnt.
Eine, die immer zu ihm gehalten hat, ist seine Mutter. Sie nahm ihn wieder zu Hause auf, als er den Job als Hörgeräte- Akustiker hinwarf, um Profimusiker zu werden. Als Dank für die jahrelange Unterstützung schrieb er ihr die Schnulze „Unter Deiner Flagge“, in der es heißt: „Deine Liebe ist mein Schild/Unter deiner Flagge/Deinen Namen trägt der Wind“. Noch bevor das Stück fertig abgemischt war, spielte es der Graf seiner Mama vor: „Das war ein schöner Moment. Da umarmt man sich, da weint man kurz“, erinnert er sich.
Er ist eben ein guter Junge. Der seinem Bandnamen letztlich kaum entspricht: Als römisch-katholisch erzogener, „extrem gläubiger“ Mensch spricht er täglich mit Gott und bittet ihn vor jedem Konzert um Kraft. Da diese Art des freien Glaubens in den Augen aller Religionen als unheilig gelte, habe er sich für diesen Namen entschieden, erklärt der Graf.
So geht er an Weihnachten auch nicht in die Kirche, sondern feiert nur mit der Familie. „Da wird den ganzen Tag gekocht und gequatscht. Abends spielen wir dann Schwarzer Peter“, erzählt er. Und am nächsten Tag zelebriert er in Berlin mit heiligem Ernst seine eigene Messe.
Konzerte: Arena, 25. und 26. 12., 19 Uhr.
Nadine Lange
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