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Kultur: Geboren, um zu beben

Warmes Pathos für kalte Zeiten: 17 000 Fans feiern in der ausverkauften Berliner Wuhlheide die Band Unheilig

Die Sonne über Berlin geht langsam unter, während 17 000 Fans zu Hildegard Knefs „Rote Rosen“ eine La-Ola-Welle beginnen. Mehrfach kreist sie durch die ausverkaufte Wuhlheide, bis der Countdown eingeläutet wird. Laut zählt das Publikum von zehn an langsam runter. Dann ist es soweit: Mit schwarzem Mantel, schwarzer Hose, Schlips und dem berühmten Dreiecksbart unter beiden Mundwinkeln betritt „Der Graf“ die Bühne.

Der Frontmann der Band Unheilig trifft mit seiner ruhigen, rauchigen Gänsehautstimme das Publikum schon beim ersten Song „Seenot“ mitten ins Herz. Vor ausverkaufter Kulisse verdeutlicht die Band, warum sie mit Textzeilen wie „Denn Du hast mir gezeigt, wie wertvoll mein Leben ist“ wochenlang die deutsche Hitparade anführte. Insgesamt 15 Mal standen sie mit ihrer aktuellen Platte „Große Freiheit“ an der Spitze der Albumcharts, ein Rekord. Keine andere Platte wurde im vergangenen Jahr häufiger in Deutschland verkauft.

Dabei entstammt die Band ursprünglich einer musikalischen Nische, der Gothic-Szene. Gegründet wurde Unheilig schon vor einem Jahrzehnt, was aber lange nicht weiter aufgefallen war. Erst das siebte Album brachte im letzten Jahr den kommerziellen Durchbruch. Für viele Fans der ersten Stunde aus der Schwarzkittel-Szene gilt der Anschluss an den Mainstream allerdings als Verrat. So brach die ursprünglich für die gesamte Tour vorgesehene Vorband And One, bekannt für ihren düsteren Synthiepop, die Zusammenarbeit schon nach drei Konzerten ab, da im Publikum von der „Schwarzen Szene“ fast gar nichts mehr übrig geblieben sei.

Tatsächlich: Die meisten der 17 000 Zuschauer in der Berliner Wuhlheide sind farbenfroh gekleidet. Fast jeden Song können sie mitsingen. Die zwischen Indiepop und Schlager changierenden Lieder handeln von Sehnsucht und Leidenschaft, von Ängsten und Wünschen. Sie sind in Zeiten von Terror, Wirtschaftskrisen und Zukunftsangst ein ideales Fluchtvehikel. Pathostriefende Zeilen wie „In diesem Augenblick bist du das Einzige, was zählt“ erzählen von den ganz großen Gefühlen und bedienen eine Sehnsucht nach Romantik und Verlässlichkeit.

So stieg die Ballade „Geboren um zu leben“, größter Hit von Unheilig und ursprünglich der Mutter des Sängers gewidmet, zur inoffiziellen Trauerhymne für die Toten der Duisburger Loveparade auf. Auf Bitte der Opferangehörigen spielte die Band den Song kürzlich, ein Jahr nach dem Unglück, bei der Gedenkfeier im Duisburger Stadion.

Keine Spezialeffekte, kein Bühnenbild, lediglich ein paar Kerzen, die dreiköpfige Band und die warme Stimme des Grafen – mehr ist nicht nötig, damit Unheilig seine Zuhörer in anhaltende Begeisterung versetzt. Der Graf hat sein Publikum von Anfang an im Griff. Immer wieder geht er an die Rampe, sucht Nähe, scherzt in seinem weichen Aachener Singsang mit den Fans in der ersten Reihe, animiert sie schwitzend zum Mitsingen und Mitklatschen. Eigentlich ist er schüchtern, auf der Bühne entwickelt er sich zum begnadeten Charismatiker.

Die Open-Air-Tour steht unter dem maritimen Motto „Heimreise – Auf dem Weg zum Heimathafen“. Zwischen den Songs werden Videos eingespielt, in denen der Graf mit einem Koffer in der Hand am Meer entlangläuft. Es war ein langer Weg, den er seit der Bandgründung im Jahr 2000 zurückgelegt hat, nun scheint er dort angekommen zu sein, wo er immer hinwollte: Vor tausenden von Fans, die ihm frenetisch zujubeln, ihn in Sprechchören feiern und ihre Hände immer wieder zu den wummernden Beats der Unheilig-Songs in die Luft reißen.

Am Ende ist der Graf von derlei Begeisterung so gerührt, dass er die Bühne küsst. Rotes Scheinwerferlicht liegt noch über der Freilichtarena, als die Band nach etlichen Zugaben ins Off verschwindet. Inzwischen ist der Himmel über Berlin pechschwarz. Doch die Nacht fühlt sich nun nicht mehr ganz so kalt an.

Rebecca Schindler

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