Unheilig: Ich will den Himmel sehen
Gothic-Schlager mit Erfolgsgarantie: Unheilig und das Album „Lichter der Stadt“. Die 16 neuen Songs sind hochdosierte Antidepressiva, oft mitreißend und immer direkt zugänglich. Die Texte bewegen sich allerdings auf kitschigem Poesialbumsniveau.
Das Leben ist schön. Ich dreh die Zeit zurück auf Anfang. Es ist schön, dir nah zu sein. Gib das Träumen niemals auf. Ich wünsche dir, dass du immer glücklich bist und das Leuchten deiner Augen niemals erlischt. Ich hab die Welt für dich gedreht. Wirf ein Licht auf dein Leben. Ich bin da, wenn du mich brauchst. Du bist mein Glück.
Es fällt schwer, unter den zahllosen schnulzigen Poesiealbumssätzen auf diesem Tonträger den allerschnulzigsten auszuwählen, die eine Zeile, die das verstörende Ausmaß an Kitschigkeit konzentriert wiedergibt. Sie findet sich schließlich in Lied Nummer sechs mit dem Titel „Unsterblich“. Sie lautet: „Jeder Wunsch, der sich in mir nach Erfüllung sehnt, wird geflutet mit allem, was du gibst.“
Nun könnte man abwinken und denken: Das muss ich mir nicht antun, das muss ich gar nicht hören! Aber doch, man muss. Denn dies sind die Zeilen, die einen – gewollt oder nicht – durch das Jahr begleiten werden, die bald schon aus Autoradios und Elektromarktlautsprechern schallen und mit denen Sportsender ihre Zusammenschnitte in Superzeitlupe unterlegen. „Große Freiheit“, das letzte Album von Unheilig, stand insgesamt 23 Wochen auf Platz eins der deutschen Charts, verkaufte sich 1,6 Millionen Mal, eine märchenhafte Zahl für die heutige Musikindustrie, und es besteht wenig Grund zu der Annahme, der Nachfolger „Lichter der Stadt“ werde signifikant weniger Beachtung finden. Vielleicht lohnt es also zu fragen: Was treibt 1,6 Millionen Menschen?
Unheilig ist das Projekt eines Mannes, der sich „Der Graf“ nennt und eine erstaunliche Entwicklung innerhalb der deutschen Gothic-Szene genommen hat. Vor zwölf Jahren gab er noch den grimmigen Bösewicht. Er trug weiße Kontaktlinsen und posierte für Fotos mal als Nosferatu, mal mit Schwert in der Hand. Auch die Texte klangen anders: „Ich bin die Macht, die im Dunkeln dir deine Träume stiehlt. Ich bin der Wind, der den Schmerz in deine Seele sät“. Falsches Umfeld, falsch beraten, heißt es heute. Geblieben ist der gelegentlich druckvolle, immer düsterromantische Synthiesound mit Hang zu besonders eingängigen Melodien. Plus eine restdüstere Aura, die einige Kritiker glauben lässt, der Graf kokettiere hier mit Todessehnsucht. Das Gegenteil ist der Fall: Schreiend lebensbejahend sind die 16 Songs seines neuen Albums geraten. Hochdosierte Antidepressiva, oft mitreißend, immer direkt zugänglich. „Das sind unsere besten Jahre und unsere beste Zeit“, freut sich der Graf in „Tage wie Gold“, und dann setzt er zu einem langgezogenen „Ooohooohooohoohoo“ an, das auch die New-Waver Ultravox nicht hymnischer hinbekommen hätten.
Krachen an anderer Stelle verzerrte Gitarren, klingt Unheilig plötzlich brachialrockig wie Rammstein, bloß ohne die verdorbenen Texte und die notorische Lust an der Provokation. Rammstein gelten als Vorbilder des Grafen, der Vergleich schmeichelt ihm sogar. In seinen schlechten Momenten bietet „Lichter der Stadt“ aber leider bloß bombastischen Schlager – so ambitionslos und eindimensional, dass dagegen selbst Rosenstolz wie eine avantgardistische Noiserockband wirken.
Die neuen Songs hat der Mann mit dem wunderlichen beidseitigen Dreiecksbart auf Tournee geschrieben. Er hat einfach Laptop und Keyboard ausgepackt und loskomponiert, im Hotelzimmer, hinter der Bühne, auf der Autobahn. Das Album sieht er als musikalisches Tagebuch, in dem er versucht hat, die vielen Eindrücke der turbulenten vergangenen zwei Jahre seit Veröffentlichung von „Große Freiheit“ inklusive des Überhits „Geboren um zu leben“ zu verarbeiten. Wenn das stimmt, muss er zwei Jahre lang mit einer dicken Scheibe Milchglas vor den Augen durchs Leben gegangen sein. So unscharf, so wenig detailreich sind seine Beobachtungen. Immer wieder besingt er die Großstadt, aber seine Skizzen erschöpfen sich tatsächlich in der Feststellung, dass in so einer Stadt viele Menschen leben und abends eine Menge Lichter scheinen. Es macht fast den Eindruck, als habe sich nach dem überraschenden Erfolg des Vorgängers niemand mehr getraut, auch bloß eine Zeile des Meisters infrage zu stellen. Als habe niemand den Schneid gehabt für einen Satz wie: Mensch Graf, über Großstadtlichter hast du bereits in sechs anderen Liedern gesungen!
Das Plattenlabel hat vorsorglich die Parole ausgegeben, dass da ein „Meisterwerk“ entstanden sei. Unklar ist, worin genau die Meisterschaft besteht. „Lichter der Stadt“ ist jedenfalls das Album, auf dem sich „Ich will den Himmel sehen“ garantiert auf „unter Sternen stehen“ reimt.
In der Gothic-Szene hat man ihm seine Hinwendung zum Mainstream übel genommen. Besonders der Auftritt bei Carmen Nebel gilt als arger Verrat eines Mannes, der mal exklusiv ihnen gehörte, der sich erste Aufmerksamkeit auf Veranstaltungen mit bezeichnenden Namen wie „Doomsday Festival“ erspielte. Dieser Verbannungsreflex ist bekannt bei in sich geschlossenen Subkulturen, die sich in der Regel gerade durch Abgrenzung von der Mehrheitskultur definieren. Im Falle von Unheilig fiel der Proteststurm aber besonders laut aus, eben weil der Erfolg so beispiellos war.
Über sein Privatleben gibt der Graf nichts preis, das möchte er für sich behalten wie den bürgerlichen Namen – auch wenn viele behaupten, dass Graf gar nicht bloß ein Künstler, sondern ebenso sein Nachname sei. So steht es zumindest auf einer CD aus den frühen Neunzigern, als ein Massenerfolg noch lange nicht abzusehen war. Vorname: Bernd.
Man findet seit kurzem ein erhellendes Video im Netz. Es zeigt den Sänger zu Besuch im schwäbischen Fellbach, kurz vor einer Autogrammstunde im Möbelhaus gibt er Interviews in einem Hinterzimmer. Der Journalist ist mies vorbereitet, seine Recherche hat sich offensichtlich darin erschöpft, die Liedtitel des neuen Albums abzuschreiben. Der Graf sitzt dort in seinem schwarzen Anzug und bleibt geduldig und findet es komisch, und dann erzählt er, dass Kinder unter zehn Jahren zu seinen Konzerten umsonst reinkommen, dass auf die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern geachtet wird, dass alle eingeladen sind. Und er bedankt sich für die schwäbischen Glücksnudeln, die ihm einer hingestellt hat. Ganz nebenbei wird dabei deutlich, wie sehr dieser Mann verbinden möchte, dass seine Kunst alles sein soll außer elitär. Vielleicht sind die ärgerlichen Floskeln, die allzu naheliegenden Metaphern in seinen Texten also pure Absicht. Die Plattenfirma von Unheilig hat sich dafür den schönen Terminus „Nachvollziehbarkeit“ zurechtgelegt. Dieser Graf ist, nach allem, was man weiß, ein sehr patenter Mensch.
„Lichter der Stadt“ erscheint am 16.3. bei Vertigo/Universal. Am 1.9. spielt Unheilig in der Wuhlheide.
Sebastian Leber
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