China nach dem Tod von Liu Xiaobo: Zensiertes Gedenken
Der chinesische Friedensnobelpreisträger starb in Gefangenschaft. Sein Schicksal gleicht dem historischer Reformer. Aber das Regime verhindert das Erinnern.
Liu Xiaobo hätte es wohl nicht gemocht, mit jenen Gelehrten im alten China verglichen zu werden, die schon in den „Gesprächen des Konfuzius“ erwähnt sind. Tugendhafte, redliche, loyale, gebildete, ehrliche Männer, die es für ihre Aufgabe hielten, dem Kaiser zu widersprechen, wenn es nötig war, und die zu demonstrieren wussten, auch wenn dies mit dem Tod bestraft werden konnte.
Obwohl dem Friedensnobelpreisträger, der am 13. Juli in Gefangenschaft starb, die Beispiele aus Chinas Geschichte gewiss geläufig waren, bezog er sich statt auf Konfuzius lieber auf Kant, dessen Werk schon der von den „Neuen Bürgern“ träumende Intellektuelle Liang Qichao (1873 –1929) zitiert hatte. Hegel mochte Liu ob seiner verschwurbelten, in Berlin aus zweiter Hand gewonnenen Vorstellungen von China eher nicht. Kants „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ aus dem „Was ist Aufklärung?“-Essay hob er dagegen immer wieder hervor.
Kurz nachdem das mächtige Kaiserreich China einen Seekrieg gegen Japan verloren hatte, sann der junge, gerade einmal 27-jährige Mandschu-Kaiser Guangxu auf Reform. Im Jahr 1898 versammelte er Gelehrte aus ganz China in seinem großen Rat, unter ihnen den KantVerehrer Liang Qichao sowie den fortschrittlichen Staatsbeamten Kang Yuwei und den Gelehrten Tan Sitong, um Reformen zu beraten und per Dekret zu verkünden. Ein Parlament gab es damals nicht. Der Beamtenapparat ließ die Dekrete jedoch 100 Tage liegen – zu viele hätten ihre Privilegien verloren.
Die Reformer 1898 mussten sterben, ihre Geschichte wird unterschlagen
Cixi, die zu Recht übel beleumundete Tante des Kaisers, griff ein, um die sogenannte 100-Tage-Reform endgültig zu verhindern. Mithilfe der Armee ließ sie alle Reformer verhaften, derer sie habhaft werden konnte, ihre Familien wurden unter Hausarrest gestellt oder in die Verbannung geschickt. In der frühen Morgenstunde des 28. September 1898 wurden sechs der Intellektuellen enthauptet. Heute gelten sie als Märtyrer des modernen China, um deren Erbe in der historischen Erzählung heftig gestritten wird.
Kang Yuwei und Liang Qichao waren vom Kaiser gewarnt worden und konnten nach Japan fliehen, wo sie weiter für eine konstitutionelle Monarchie kämpften. Tan Sitong jedoch blieb in China, obwohl auch er gewarnt worden war. Er hielt seine Selbstopferung für notwendig und wurde hingerichtet. 1896 schrieb er in einem Gedicht: „Nichts in der Welt kann die Sehnsucht nach dem Frühling verhindern“. Der in Berlin lebende Pulitzerpreisträger und Chinakenner Ian Johnson hat Tan Sitong vor wenigen Tagen in einem Essay für die „New York Review of Books“ mit Liu Xiaobo verglichen.
Der junge Kaiser Guangxu wiederum, ein Held der Reformer, wurde von Cixi auf einer Insel an der Verbotenen Stadt in Peking unter Hausarrest gestellt und für krank erklärt. Erst 2008 ergab eine forensische Untersuchung, dass der Kaiser mit Arsen vergiftet worden war. Der marxistische, nach 1949 in Peking lehrende Historiker Fan Wenlan nannte Guangxu einen „mandschurischen Adeligen, der westliche Ideen akzeptieren konnte“, deshalb passt er der Kommunistischen Partei bis heute kaum ins Narrativ des Landes. Heute ist der Westen mit seinen Freiheitsideen der Feind, das Reich des Bösen.
Rechtsexperten sagen: Der Umgang auch mit der Witwe verletzt die Konvention gegen Folter
Die geballte Staatsmacht konnte die Persönlichkeit Liu Xiaobos nicht brechen. Ob er im Gefängnis durch vorsätzlich unterlassene Hilfeleistung unrettbar krank wurde, wird man kaum je erfahren. Der Amerikaner Jerome Cohen, profunder Kenner des chinesischen Rechtssystems, findet klare Worte dazu, auch über das Vorgehen gegen Lius Witwe Liu Xia. Ein Beispiel, „wie die Volksrepublik China jemanden ohne Anklage und ohne Urteil der verbotenen Folter unterwirft“, so Cohen in seinem Blog. „Was ihren Ehemann betrifft, so wissen wir nichts über die Bedingungen seiner letzten Inhaftierung und auch nicht, inwieweit ihm angemessene medizinische Hilfe verweigert worden war.“ Vermutlich standen die Verantwortlichen seinem zunehmend lebensbedrohlichen Gesundheitszustand jedoch gleichgültig gegenüber – eine Misshandlung, die ebenfalls als Verletzung der Konvention gegen Folter angesehen werden könne. China ist einer von 160 Staaten, der die Konvention der Vereinten Nationen „gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ ratifiziert hat.
Obwohl man im heutigen China behauptet, mit dem alten China nicht viel zu tun zu haben, wird wieder der Konfuzianismus propagiert. Tele-Evangelisten wie die Pekinger Professorin Yu Dan locken ein Millionenpublikum mit Sendungen an, in denen sie Konfuzius auf New Age herunterbrechen. Ihr größter Erfolg: Erläuterungen der „Gespräche des Konfuzius“. Auch auf den Ahnenkult greift man zurück, wenn es passt.
Wie Trauerbekundungen auch weiter im Internet zensiert werden
Die Bulldogge unter den chinesischen Zeitungen, das Parteiblatt „Global Times“ gibt den Ton vor. Am 15. Juli schreibt sie in einem Editorial: „Lius Ahnentafel hat keinen Platz im Tempel von Chinas Kultur. Die Vergöttlichung Lius durch den Westen wird überlagert sein von seiner Ablehnung durch China“. Am 18. Juli heißt es brutal im gleichen Organ: „Das eigentliche Thema für den Westen ist die Kooperation mit China. Liu Xiaobo ist nur ein Werkzeug der westlichen Länder, um sich ihr Überlegenheitsgefühl zu bewahren und eine Trumpfkarte in Händen zu halten, um aus China mehr Profit zu ziehen. Liu Xiaobo ist gegangen. Westliche Mächte und Dissidenten im Exil sollten jetzt auch von Liu Xia lassen.“
Kaum ein Regierungschef oder Außenminister der westlichen Welt, der nicht um Freilassung des Schriftstellers Liu Xiaobo und seiner unter Hausarrest stehenden Frau Liu Xia gebeten hatte. Über 300 Nobelpreisträger, Dutzende Unterzeichner der Prager Charta 77, Vorbild für jenes Demokratiemanifest der Charta 08, an der Liu maßgeblich mitwirkte, und zehntausende Bürger baten das Regime um Gnade. Ohne Erfolg.
Die gegen Liu Xiaobo und Liu Xia zu Felde ziehenden Editorials in der „Global Times“ sind die eine Seite der Medaille. Die andere ist der gewaltige Zensuraufwand, mit dem jede Nachricht im chinesischen Internet über Liu Xiaobos Tod verhindert werden soll. Laut BBC kontrollierten schon 2013 wohl über zwei Millionen Zensoren täglich das Netz. 900 Millionen Nutzer von WeChat – eine App, die die Funktionen von Facebook und WhatsApp kombiniert – sollen nicht erfahren, das Liu Xiaobo gestorben ist und dass Menschen um ihn trauern. Kein Bild des todkranken Dissidenten, kein Bild seiner unwürdigen Bestattung auf See soll die Öffentlichkeit erreichen. WhatsApp und Facebook selbst werden in China ohnehin blockiert, ebenso YouTube und Twitter.
Die Propaganda nennt die Firewall „Goldenes Schild“. Damit hat sich China erfolgreich gegen die gesamte Außenwelt abgeschottet. Sogar Fotos kann man dank neu entwickelter Algorithmen zensieren. Die Bürger Chinas sind sich jedoch der Zensur bewusst und versuchen sie auszutricksen. Sie stellen Bilder schräg, veranstalten einen „Tanz der Homonyme“: Ähnlich lautende Worte können im Chinesischen mit verschiedenen Zeichen geschrieben werden, auch der Name Liu Xiaobos. Inzwischen werden auch alle Homonyme für den Namen im Internet zensiert – auf diesem Kampfschauplatz des Staats gegen seine Bürger gewinnt oft der Staat.
Sogar das Emoticon Kerze wird von den Zensoren blockiert
So wurde nicht nur das Wort für Kerze blockiert, sondern auch das Emoticon Kerze. Ebenso die Vokabel „furchtlos“ und die Wendung „Ich habe keine Feinde“, ein berühmtes Zitat Lius aus dessen Prozess 2009. Weiterhin gesperrt sind das Namenskürzel LXB sowie RIP oder R.I.P. für die Grabinschrift „Requiescat in pace“. Und, besonders absurd, der Fachbegriff Aspergillus flavus. Er bezeichnet einen Schimmelpilz, der offenbar Leberkrebs auslösen kann – die Krankheit, an der Liu Xiaobo gestorben ist.
Dass man auch die „New York Times“ in China nicht lesen kann wie viele andere ausländische Zeitungen, wird damit begründet, dass keine „fremden Mächte“ den Werdegang des Landes stören dürfen. Und wenn die Propaganda von „Harmonie“ (hexie) spricht, ein dem Konfuzianismus entlehnter Begriff, dann sprechen die trotz allem dem Humor aufgeschlossenen Chinesen von „bei hexie“; das bedeutet „harmonisiert werden“.
Welche Furcht muss die Mächtigen Chinas veranlasst haben, Journalisten in Peking mit hunderten Polizisten daran zu hindern, die zarte Liu Xia zu treffen? Die spanische Nachrichtenagentur EFE berichtet von Handgreiflichkeiten unweit der Wohnung der Fotografin und Künstlerin, ebenso der britische „Guardian“. Mittlerweile soll Liu Xia mit ihrem Bruder in einen Zwangsurlaub in die südwestliche Provinz Yunnan transportiert worden sein, wohl kaum mit ihrem Einverständnis. Tag und Nacht ist sie von Dutzenden Polizisten umzingelt. Nicht einmal die üblichen sieben Tage Trauer gestattete man ihr und den Freunden der Familie, denn die Asche von Liu Xiaobo wurde nur zwei Tage nach seinem Tod auf See verstreut.
Das ganze Meer als Liu Xiaobos Grab - überall gedenken die Menschen seiner
Liu Xia, die nie angeklagt war, nie verurteilt worden ist, darf sich nicht frei bewegen, sie darf sich nicht in Peking aufhalten, keinen Kontakt mit Journalisten haben. Sie darf nicht ausreisen. Die Seebestattung von Liu Xiaobo, ungewöhnlich und gewiss keine lokale Sitte, wie staatliche Stellen behaupten, hat jedoch einen bemerkenswerten Effekt. Ein Grab als potenzielle Pilgerstätte für Oppositionelle und Regimekritiker sollte es nach dem Willen von Xi Jipings Regierung nicht geben, aber nun werden sämtliche Meeresufer der Welt zum Gedenkort.
Von Australien bis San Francisco begeben sich Menschen ans Meer, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Liu Xiaobo ist jetzt ein Märtyrer.
Gereon Sievernich studierte Sinologie und ist seit 2001 Direktor des Berliner Martin-Gropius-Baus.
Gereon Sievernich